Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
ich sie mit demselben Prinzip vertraut. Da sie sich ein Zimmer teilen, wird es dort etwas lauter. Doch wenn es nicht wirklich gefährlich klingt, vermeide ich es, nach dem Gutenachtsagen noch einmal in ihr Zimmer zu kommen. Wird es zu spät und sie spielen immer noch, gehe ich zu ihnen und sage, dass Schlafenszeit ist und dass ich jetzt das Licht ausmache. Sie scheinen das nicht als Verstoß gegen das »Ihr könnt machen, was ihr wollt«-Prinzip zu betrachten. Denn dann sind sie meist schon erschöpft und gehen bereitwillig ins Bett.
Um meine Schwarz-Weiß-Sicht von Autorität zu ändern, besuche ich Daniel Marcelli. Marcelli ist Oberarzt in der Kinderpsychiatrie eines großen Krankenhauses in Poitiers und Autor von mehr als einem Dutzend Büchern. Ein neuerer Titel lautet Il est permis d’obéir (»Es ist erlaubt zu gehorchen«). Das Buch ist ein praktischer Elternratgeber, geht dabei aber auch der Frage nach, was eigentlich das Wesen von Autorität ist. Marcelli unterfüttert seine Argumente sorgfältig, er zitiert Hannah Arendt und liebt Paradoxe.
Marcelli schreibt, dass Eltern, um Autorität zu besitzen, fast immer Ja sagen sollen. »Wenn man ständig alles verbietet, ist man zwar autoritär, aber nicht Respekt einflößend«, so Marcelli bei Kaffee und Pralinen. Das Wichtigste an elterlicher Autorität sei, die Kinder zu bestimmten Dingen zu berechtigen, und nicht, sie zu blockieren.
Marcelli nennt das Beispiel eines Kindes, das eine Orange, ein Glas Wasser oder an den Computer möchte. Das heutige französische »liberale Erziehungsmodell« so Marcelli, schreibt vor, dass das Kind erst fragen sollte, bevor es etwas anfasst oder nimmt. Marcelli findet das gut, sagt aber auch, dass die Antwort der Eltern fast immer Ja lauten sollte.
Die Eltern sollten dem Kind das hin und wieder verbieten, wenn etwas zerbrechlich oder gefährlich ist. Aber im Grunde bestehe die Aufgabe der Eltern darin, dem Kind beizubringen, dass es fragen soll, bevor es sich etwas nimmt.
Marcelli sagt, dass man damit ein langfristigeres Ziel verfolge, was wiederum ein eigenes Paradox sei: Machen die Eltern alles richtig, wird das Kind dazu befähigt, sich bewusst dafür zu entscheiden, nicht zu gehorchen.
»Eine erfolgreiche Erziehung ist dadurch gekennzeichnet, dass man dem Kind so lange Gehorsam beibringt, bis es dazu in der Lage ist, hin und wieder nicht zu gehorchen. Denn wie soll man lernen, bestimmte Befehle nicht zu befolgen, wenn man nicht zuerst das Befolgen gelernt hat?
»Unterwerfung hat etwas Erniedrigendes«, so Marcelli, »während Gehorsam einem Kind erlaubt, erwachsen zu werden.« (Er sagt auch, dass Kinder ein bisschen fernschauen sollten, damit sie eine gemeinsame Kultur mit anderen Kindern haben.)
Ist man bereit, Marcellis Argumentation in puncto Autorität zu folgen, hilft es, in Frankreich aufgewachsen zu sein, denn dort wird schon in der Mittelschule Philosophie unterrichtet. Was mir jedoch sofort einleuchtet, ist, dass Kinder bei einem so strengen cadre ruhig einmal ausscheren dürfen. Dadurch hat er seine Gültigkeit schließlich nicht verloren.
Marcelli unterstreicht auch noch etwas anderes, das ich oft in Frankreich höre: Setzt man ihnen keine Grenzen, sind Kinder ihren Wünschen hilflos ausgeliefert. (»Denn von Natur aus kennt der Mensch keine Grenzen«, so Marcelli.) Der cadre hilft den Kindern, ihr inneres Chaos zu bändigen, sich zu beruhigen.
Das könnte auch erklären, warum meine Kinder die einzigen sind, die im Park einen Tobsuchtsanfall bekommen. Dazu kommt es, wenn ein Kind von seinen Wünschen überwältigt wird und nicht weiß, wie es sich wieder einkriegen soll. Die anderen Kinder sind an nons gewöhnt, daran, sie zu akzeptieren. Aber nicht meine. Mein »Nein« klingt in ihren Ohren zögerlich und alles andere als überzeugend. Es kann ihren Teufelskreis aus Wünschen nicht durchbrechen.
Laut Marcelli können Kinder trotz cadre durchaus kreativ und »erweckt« sein – ein Zustand, den französische Eltern auch als »aufblühen« beschreiben. Das französische Ideal besteht darin, das Aufblühen des Kindes innerhalb des cadre zu fördern. Eine winzige Minderheit französischer Eltern hielte das Aufblühen jedoch für das einzig Wichtige, und gebe ihren Kindern keinen cadre . Marcelli nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er sagt, was er davon hält: »Deren Kinder entwickeln sich gar nicht gut, sie verzweifeln in jeglicher Hinsicht.«
Mir gefällt diese neue Betrachtungsweise ziemlich gut. Von
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