Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
sprechen in scharfem Ton mit ihren Kindern. Aber sie ziehen minimalinvasive Eingriffe einer Flächenbombardierung vor. Schreien bleibt wirklich kritischen Momenten vorbehalten, in denen man etwas ein für alle Mal klarmachen will. Schreie ich meine Kinder im Park, zu Hause oder wenn Freunde auf Besuch sind, an, werfen sich die anderen Eltern alarmierte Blicke zu, so als sei das ein schweres Vergehen.
Amerikanische Eltern glauben, dass Autorität eine Frage von Disziplin und Strafe ist. Französische Eltern sprechen von der éducation ihrer Kinder. Wie das Wort bereits sagt, geht es ihnen darum, den Kindern schrittweise beizubringen, was erlaubt ist und was nicht.
Die Vorstellung, dass man sie unterrichtet statt kontrolliert, führt zu einem viel freundlicheren Umgangston. Als Leo sich beim Abendessen weigert, sein Besteck zu benutzen, versuche ich mir vorzustellen, dass ich ihm beibringe, eine Gabel zu verwenden, so als brächte ich ihm das Alphabet bei. Das hilft mir, geduldig und gelassen zu bleiben. Ich fühle mich nicht mehr so provoziert, wenn er nicht sofort gehorcht. Ist die Stimmung nicht so angespannt, gibt er sich auch mehr Mühe. Ich schreie nicht, und das Abendessen gestaltet sich für alle Beteiligten angenehmer.
Ich brauche eine Weile, bis ich merke, dass Franzosen und Amerikaner unter »streng« etwas vollkommen anderes verstehen: Wir Amerikaner haben das Bild eines herrischen, freudlosen Lehrers vor Augen. Ich kenne nicht viele amerikanische Eltern, die sich selbst als streng bezeichnen würden. Aber fast alle Franzosen aus meinem Bekanntenkreis tun das.
Französische Eltern meinen damit, dass sie in bestimmten Dingen sehr streng sind, aber allem anderen gegenüber eine entspannte Einstellung haben. Das ist das cadre -Modell: ein fester Rahmen, der viele Freiheiten beinhaltet.
»Wir sollten dem Kind so viele Freiheiten lassen wie möglich, ohne ihm sinnlose Regeln aufzuerlegen«, so Françoise Dolto in Les étapes majeures de l’enfance . »Wir sollten ihm nur den cadre auferlegen, der für seine Unversehrtheit unabdingbar ist. Dann lernt das Kind aus Erfahrung, dass er unabdingbar ist, sobald es versucht, ihn zu überschreiten, und dass wir ihm nichts vorschreiben, nur um es zu ärgern.« Mit anderen Worten: Sind Eltern nur in Bezug auf ein paar wesentliche Dinge streng, wirken sie auch vernünftiger, und die Kinder werden ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit gehorchen.
Orientiert an Dolto erzählen mir Pariser Mittelschicht-Eltern, dass sie sich normalerweise über bêtises , also über unwesentliche Albernheiten, nicht groß aufregen. Sie gehen davon aus, dass sie einfach zur Kindheit dazugehören. »Wenn man jedes Fehlverhalten auf dem Fuße ahndet – woher sollen die Kinder dann wissen, was wirklich wichtig ist?«, so meine Freundin Esther.
Aber dieselben Eltern sagen, dass sie bei bestimmten Regelverstößen sofort eingreifen. Die Null-Toleranz-Bereiche variieren dabei etwas. Aber fast alle Eltern sagen, dass ein Bereich, der nicht verhandelbar ist, der Respekt im Umgang mit anderen ist. Damit meinen sie all die bonjours , au revoirs und mercis , aber auch, dass man Eltern oder andere Erwachsene respektvoll behandelt.
Körperliche Gewalt ist ein weiteres Tabu. Amerikanische Kinder scheinen oft damit durchzukommen, wenn sie ihre Eltern schlagen – und das, obwohl sie ganz genau wissen, dass das verboten ist. Französische Erwachsene tolerieren das in gar keiner Weise. Bean schlägt mich einmal in Gegenwart unseres Nachbarn Pascal, eines Bohemien-artigen Junggesellen um die fünfzig. Pascal ist normalerweise locker drauf, doch jetzt hält er Bean umgehend einen Vortrag, »dass man so etwas nicht tut«. Ich staune über seine unerschütterliche Überzeugungskraft. Ich sehe, dass auch Bean voll des Respekts ist.
Wenn es ums Schlafengehen geht, kann man die französische Balance zwischen Strenge in bestimmten Bereichen und Lockerheit in anderen besonders gut beobachten: Einige Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder zur Schlafenszeit in ihren Zimmern bleiben müssen. Was sie dort tun, sei ihre Sache.
Ich stelle diese Idee Bean vor, und sie findet sie klasse. Bean findet es nicht schlimm, dass sie das Zimmer nicht verlassen darf. Stattdessen verkündet sie mehrmals stolz, »Ich kann machen, was ich will!« Normalerweise spielt und liest sie noch ein bisschen und geht dann von allein ins Bett.
Als die Jungen ungefähr zwei Jahre alt sind und schon in richtigen Kinderbetten schlafen, mache
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