Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
diese Zyklen zu begreifen. Dann wird es auch in Zukunft darauf angewiesen sein, dass ein Erwachsener hereinkommt und es nach jedem Zyklus wieder in den Schlaf wiegt.
Normalerweise können Neugeborene diese Schlafzyklen noch nicht selbstständig miteinander verbinden. Aber wenn sie zwei, drei Monate alt sind, haben sie es in der Regel gelernt – vorausgesetzt, sie bekommen die Chance dazu. Laut Cohen funktioniert das Verbinden der Schlafzyklen genauso wie das Fahrradfahren: Schafft das Baby es ein Mal, von selbst einzuschlafen, wird es ihm beim nächsten Mal schon leichterfallen. (Auch Erwachsene wachen zwischen den Schlafzyklen auf, können sich aber meist nicht mehr daran erinnern, weil sie gelernt haben, sich gleich in den nächsten Schlafzyklus fallen zu lassen.)
Cohen zufolge brauchen es manche Babys, gestillt oder hochgenommen zu werden. Aber bevor wir nicht kurz innehalten und sie beobachten, können wir das nicht wissen. »Werden die Forderungen des Kindes drängender, muss man es natürlich stillen«, sagt Cohen. »Damit meine ich nicht, dass Sie Ihr Baby schreien lassen sollen.« Er sagt nur, dass man seinem Kind die Chance geben sollte, etwas zu lernen.
Cohens einzigartiger Rat könnte auch das Rätsel lösen, warum französische Eltern behaupten, sie würden ihre Kinder nie länger schreien lassen: Legen Eltern in den ersten zwei Lebensmonaten des Babys die besagte Pause ein, kann ihr Baby lernen, von selbst einzuschlafen. Dann müssen die Eltern später auch nicht auf die Maßnahme zurückgreifen, es schreien zu lassen.
Das kurze Abwarten ist nicht so brutal wie das Schlaftraining. Es ist eher eine Art Schlafunterricht. Aber das Zeitfenster dafür ist ziemlich klein. Laut Cohen funktioniert es nur, bis das Baby vier Monate alt ist. Danach haben sich bereits ungute Schlafangewohnheiten eingeschlichen.
Zurück in Paris frage ich sofort französische Mütter, ob sie auch die bewusste Pause einlegen. Jede einzelne sagt, natürlich tue sie das. Das sei doch selbstverständlich, deshalb seien sie auch nie auf die Idee gekommen, es überhaupt zu erwähnen. Die meisten begannen mit der Pause, als ihre Babys wenige Wochen alt waren.
Alexandra, deren Töchter schon in der Klinik durchgeschlafen haben, bestätigt, dass sie natürlich nicht sofort hingelaufen sei, sobald die Babys anfingen zu weinen. Manchmal habe sie fünf oder zehn Minuten gewartet, bevor sie sie hochnahm. Sie habe erst sehen wollen, ob die Kleinen zwischen den Schlafzyklen von allein wieder einschliefen oder von etwas anderem gequält wurden: von Hunger, einer vollen Windel oder einfach von Angst.
Alexandra trägt ihr blondgelocktes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sieht aus wie eine Mischung aus Mutter Erde und Highschool-Cheerleaderin. Sie ist unglaublich herzlich. Sie hat ihre Neugeborenen nicht ignoriert – im Gegenteil, sie hat sie sorgsam beobachtet. Alexandra hat darauf vertraut, dass ihr Weinen etwas bedeutet. Während der Pause hat sie sie angesehen und zugehört. (Sie fügt hinzu, dass es noch einen Grund für die Pause gibt: »Um den Kindern Geduld beizubringen«.)
Französische Eltern haben keinen Namen für diesen kurzen Moment des Abwartens, für sie ist das einfach gesunder Menschenverstand. Aber sie scheinen alle den Trick mit der kleinen Pause anzuwenden und erinnern sich gegenseitig daran, dass er unverzichtbar ist. Es ist eigentlich ganz einfach. Die französischen Mütter haben keinen noch nie da gewesenen Schlaftrick hervorgezaubert. Sie haben sich einfach nur auf die eine Sache konzentriert, die wirklich funktioniert.
Hat man die philosophischen Passagen erst einmal hinter sich, liest man in L’enfant et son sommeil , dass ein Eingreifen zwischen den Schlafzyklen unweigerlich zu Schlafproblemen führt – zum Beispiel dazu, dass das Kind nach jedem 90-Minuten- oder Zwei-Stunden-Zyklus hellwach wird.
Plötzlich wird mir klar, dass Alison, die Marketingexpertin, die ihren Sohn ein halbes Jahr lang alle zwei Stunden gestillt hat, nicht von Anfang an ein Kind mit seltsamen Schlafbedürfnissen hatte. Sie hat ihm bloß unbewusst beigebracht, dass er nach jedem Zwei-Stunden-Schlafzyklus gestillt werden muss. Alison ist also nicht auf die Bedürfnisse ihres Sohnes eingegangen, sie hat diese Bedürfnisse überhaupt erst geschaffen.
In einem Artikel in der Zeitschrift Maman! steht, dass in den ersten sechs Lebensmonaten eines Kindes fünfzig bis sechzig Prozent seines Schlafs sommeil agité (»unruhiger Schlaf«)
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