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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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sich mit »Leise!« oder »Lass das!« an kindliche Rowdys zu wenden, sagen französische Eltern einfach oft nur scharf »Attend!«, was nichts anderes als »Warte!« bedeutet.
    Mischel hat den Marshmallow-Test nie mit französischen Kindern durchgeführt. (Vermutlich hätte er sich dann eine Version mit pain au chocolat ausdenken müssen.) Aber als langjähriger Beobachter staunt er selbst über die Unterschiede zwischen französischen und amerikanischen Kindern.
    »In Amerika«, so Mischel, »hat man den Eindruck, dass es Kindern immer schwererfällt, sich zu beherrschen.« Das treffe sogar auf seine eigenen Enkel zu. »Ich mag es nicht, wenn ich eine meiner Töchter anrufe und sie mir sagt, sie könne jetzt gerade nicht reden, weil eines ihrer Kinder an ihr zerrt. Warum sagt sie nicht einfach zu ihm: ›Moment mal, ich rede gerade mit Opa.‹?« 10
    Kinder, die warten können, machen das Familienleben deutlich angenehmer. »Die Kinder in Frankreich sind disziplinierter, sie werden eher so erzogen wie ich früher«, so Mischel. »Kommen französische Freunde mit kleinen Kindern auf Besuch, kann man in Ruhe das Abendessen genießen … Bei französischen Kindern geht man einfach davon aus, dass sie sich benehmen und das Essen genießen können.«
    »Genießen« ist ein wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. Französische Eltern wollen keine stummen, freudlosen, folgsamen Kinder. Sie glauben nur nicht, dass Kinder das Leben genießen können, wenn ihnen jegliche Selbstbeherrschung fehlt.
    Ich höre oft, dass französische Eltern ihre Kinder bitten, sage zu sein. »Sois sage!« heißt so etwas Ähnliches wie »Sei brav!«. Aber es bedeutet noch viel mehr als das. Sage ich zu Bean, sie soll »brav« sein, bevor wir jemanden besuchen, ist das so, als wäre sie ein wildes Tier, das sich eine Stunde lang zahm gebärden soll, aber jederzeit wieder wild werden kann. Es impliziert, dass es ihrem Naturell widerspricht, brav zu sein.
    Sage ich dagegen zu Bean, sie soll »sage« sein, sage ich ihr ebenfalls, dass sie sich gut benehmen soll. Aber ich bitte sie auch, ihren Verstand zu benutzen und andere zu respektieren. Ich gehe davon aus, dass sie die Situation einschätzen und sich beherrschen kann. Und ich sage ihr damit auch, dass ich ihr vertraue.
    Sage sein bedeutet nicht, langweilig zu sein. Die französischen Kinder aus meinem Bekanntenkreis amüsieren sich prächtig. Am Wochenende tobt Bean stundenlang mit ihren französischen Freunden durch den Park. In den Pausen in der Kinderkrippe und später in der Schule ist alles Mögliche erlaubt. Es gibt ein unterhaltsames Kinderprogramm in Paris, bestehend aus Filmfestivals, Theateraufführungen und Kochkursen, die alle Geduld und Aufmerksamkeit erfordern. Die französischen Eltern aus meinem Bekanntenkreis wollen, dass ihre Kinder vielfältige Erfahrungen machen und mit Kunst und Musik in Berührung kommen.
    Sie können sich aber nicht vorstellen, wie Kinder diese Erfahrungen genießen sollen, wenn sie nicht die Geduld haben, ein paar Minuten zu warten. Aus französischer Sicht ermöglicht erst die Selbstbeherrschung, die Fähigkeit, gelassen zu bleiben, statt sich nervös, reizbar und fordernd zu gebärden, dass Kinder Spaß haben können.
    Französische Eltern und Kinderbetreuer gehen dabei aber nicht davon aus, dass Kinder eine unerschöpfliche Geduld besitzen. Sie erwarten nicht, dass Kleinkinder eine ganze Symphonie oder ein Bankett durchstehen. Unter »Warten« verstehen sie in der Regel Minuten oder Sekunden.
    Aber schon diese kleinen Verzögerungen scheinen viel zu bewirken. Heute bin ich fest davon überzeugt, dass französische Kinder deshalb so selten jammern oder Wutanfälle bekommen, weil sie schon früh die Fähigkeit entwickelt haben, mit Frustration umzugehen. Sie erwarten nicht, dass ihre Bedürfnisse immer sofort befriedigt werden. Reden französische Eltern von »Erziehung«, reden sie größtenteils darüber, wie man Kindern beibringt, das Marshmallow nicht zu essen.
    * * *
    Wie genau verwandeln Franzosen normale Kinder in fantastische Belohnungsaufschieber? Und werden wir es schaffen, sogar Bean das Warten beizubringen?
    Walter Mischel hat sich Videoaufnahmen von Hunderten von zappeligen Vierjährigen angesehen, die dem Marshmallow-Test unterzogen wurden. Schließlich fand er heraus, dass sich diejenigen, die die Belohnung nicht aufschieben konnten, auf die Marshmallows konzentrierten, während sich die anderen ablenkten. »Kinder, die gut warten können,

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