Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Lieblingsschlafpositionen. Wir haben ihr Impfbüchlein dabei und unsere Telefonnummern für den Notfall. Aber eine Frage verblüfft uns: Um wie viel Uhr bekommt sie ihre Milch?
Was die Fütterungszeiten angeht, teilen sich amerikanische Eltern wieder einmal in zwei feindliche Lager auf. Man könnte es als Nahrungskrieg bezeichnen: Ein Lager glaubt daran, dass es feste Fütterungszeiten geben sollte. Ein anderes besteht darauf, Kinder zu füttern, wenn sie hungrig sind. Wir pflegen eine Art Kompromiss: Bean bekommt regelmäßig Milch, wenn sie aufwacht, und kurz vor dem Schlafengehen. Dazwischen füttern wir sie, sobald sie einen hungrigen Eindruck macht. Aus Simons Sicht gibt es kein Problem, dass sich nicht mit dem Fläschchen oder der Brust lösen ließe. Wir tun alles, damit Bean nicht losschreit.
Nachdem ich der Crèche-Dame unser System erklärt habe, sieht sie mich an, als hätte ich soeben erzählt, Bean dürfe unser Auto fahren. Wir wissen nicht, wann unser Kind isst? Dieses Problem wird sie rasch lösen. Der Blick der Crèche-Dame macht uns auch deutlich, dass es hier in Frankreich keine zwei Lager gibt. Ab einem Alter von etwa vier Monaten werden die meisten französischen Kinder zu festen Zeiten gefüttert. Wie beim Schlafenlernen ist das für Franzosen gesunder Menschenverstand und nicht Teil einer Erziehungsphilosophie.
Noch seltsamer ist für mich, dass all diese französischen Babys etwa zur selben Zeit essen. Mit leichten Abweichungen erzählen mir die Mütter, dass ihre Kinder gegen acht Uhr morgens, zwölf Uhr mittags, vier Uhr nachmittags und acht Uhr abends essen. In Frankreich nennt man das nicht mal »füttern«, was ja irgendwie so klingt, als würde man Kühen Heu vorwerfen. Man spricht hier von »Mahlzeiten geben«. Und ihre Abfolge erinnert an einen Speiseplan, der mir ziemlich bekannt vorkommt: Frühstück, Mittag- und Abendessen, nachmittags gibt es noch einen kleinen Snack. Mit anderen Worten, schon mit vier Monaten halten sich französische Babys an die Essenszeiten, die sie für den Rest ihres Lebens beibehalten werden. (Erwachsene lassen den Snack normalerweise weg.)
Fragt man französische Eltern jedoch, ob sich ihre Kinder beim Essen an einen bestimmten Zeitplan halten, antworten sie fast immer mit Nein. Wie beim Thema Schlaf behaupten die Eltern steif und fest, sich einfach nur dem Rhythmus ihrer Kinder anzupassen. Wenn ich dann darauf hinweise, dass alle französischen Babys etwa zur selben Zeit essen, tun die Eltern das als bloßen Zufall ab.
Noch rätselhafter für mich ist, wie es die französischen Babys schaffen, die vier Stunden von einer Mahlzeit bis zur nächsten zu überbrücken. Bean wird schon unruhig, wenn sie nur wenige Minuten auf ihre Mahlzeit warten muss. Und wir ebenfalls. Aber so langsam bekomme ich das Gefühl, dass hier in Frankreich ziemlich viel gewartet wird. Zunächst gibt es die Pause: Französische Eltern warten einen Moment, wenn ihr Baby aufwacht. Dann gibt es feste Essenszeiten, bei denen die Kinder vier Stunden auf die nächste Mahlzeit warten. Und dann sind da natürlich noch all die Kleinkinder, die im Restaurant ganz brav darauf warten, dass ihr Essen kommt.
Die Franzosen scheinen ausnahmslos das Wunder vollbracht zu haben, ihre Babys und Kleinkinder nicht nur zum Warten zu erziehen, sondern auch dazu, das glücklich und zufrieden zu tun. Erklärt diese Fähigkeit den Unterschied zwischen französischen und amerikanischen bzw. deutschen Kindern?
Um mich diesbezüglich schlauzumachen, schicke ich Walter Mischel, dem weltbekannten Experten für Belohnungsaufschub bei Kindern, eine E-Mail. Er ist achtzig Jahre alt und Psychologieprofessor an der Columbia University. Ich habe alles über ihn gelesen und kenne viele seiner Aufsätze zum Thema. Ich schreibe ihm, dass ich mich in Paris mit französischen Erziehungsmethoden beschäftige, und frage, ob er Zeit für ein Telefonat habe.
Mischel antwortet nur wenige Stunden später. Zu meinem Erstaunen schreibt er, er sei ebenfalls in Paris. Ob ich nicht auf einen Kaffee vorbeischauen wolle? Zwei Tage später sitzen wir in der Wohnung seiner Freundin im Quartier Latin, gleich unterhalb des Panthéon, gemeinsam am Küchentisch.
Mischel sieht höchstens aus wie siebzig, auf keinen Fall wie achtzig. Er hat einen kahl rasierten Schädel und die Energie eines Boxers, gleichzeitig ein freundliches, fast kindliches Gesicht. Es fällt nicht schwer, in ihm den Achtjährigen aus Wien zu sehen, der nach dem
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