Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
sind auch diejenigen, die lernen, während des Wartens kurze Lieder zu singen, sich am Ohr zu kratzen oder mit ihren Zehen zu spielen, sich also die Zeit so angenehm wie möglich zu vertreiben«, so Mischel. Diejenigen, die sich nicht ablenken können und nur auf die Marshmallows fixiert sind, essen sie. 11
Daraus schließt Mischel, dass man kein Stoiker sein muss, um den Willen zum Warten aufzubringen. Es geht nur darum, Techniken zu erlernen, die das Warten weniger frustrierend machen. »Es gibt unzählige Möglichkeiten, das zu erreichen, und die einfachste und unmittelbarste besteht darin (…) sich abzulenken.«
Eltern müssen ihren Kindern diese Ablenkungsstrategien nicht extra beibringen. Laut Mischel lernen die Kinder sie von ganz allein, wenn ihre Eltern sie das Warten üben lassen. »Ich glaube, in der Erziehung wird oft unterschätzt, welch außergewöhnliche (…) kognitive Fähigkeiten schon sehr kleine Kinder haben, wenn man sie aktiviert.«
Genau das kann ich an französischen Eltern beobachten. Sie bringen ihren Kindern nicht bewusst Ablenkungstechniken bei. Im Grunde geben sie ihnen bloß häufig Gelegenheit, das Warten zu üben.
An einem grauen Samstagnachmittag nehme ich den Zug nach Fontenay-sous-Bois, einem Vorort östlich von Paris. Eine Freundin hat dort ein Treffen mit einer Familie für mich organisiert. Martine, die Mutter, ist eine hübsche Arbeitsrechtlerin von Mitte dreißig. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Notfallarzt, und ihren beiden Kindern in einem von Bäumen umgebenen Bungalow.
Auf den ersten Blick staune ich, wie sehr Martines Wohnung meiner eigenen ähnelt. Spielzeug säumt den Wohnbereich, der in eine offene Küche übergeht, die in Frankreich cuisine américaine genannt wird. Wir haben dieselben Edelstahlfronten.
Aber das sind dann auch schon alle Gemeinsamkeiten. Obwohl sie zwei kleine Kinder haben, herrscht eine Ruhe in Martines Haus, von der wir nur träumen können. Als ich eintreffe, arbeitet ihr Mann im Wohnzimmer am Laptop, während der ein Jahr alte Auguste nebenan sein Schläfchen macht. Paulette, die Dreijährige mit dem Pixie-Haarschnitt, sitzt am Küchentisch und gibt mit einem Löffel Cupcake-Teig in kleine Förmchen. Sobald ein Förmchen voll ist, verziert sie es mit bunten Zuckerstreuseln und frischen Stachelbeeren.
Martine und ich lassen uns am anderen Ende des Tisches zum Plaudern nieder. Aber ich bin wie hypnotisiert von der kleinen Paulette und ihren Cupcakes. Paulette ist völlig in ihre Aufgabe versunken. Irgendwie schafft sie es, der Versuchung zu widerstehen, den Teig zu essen. Als sie fertig ist, fragt sie ihre Mutter, ob sie den Löffel ablecken darf.
»Nein, aber du kannst ein paar Zuckerstreusel haben«, sagt Martine, woraufhin Paulette mehrere Löffel Streusel auf den Tisch schüttet.
Meine Tochter Bean ist genau in Paulettes Alter, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, sie ganz allein so etwas Kompliziertes machen zu lassen. Ich würde sie überwachen, und sie würde sich dagegen wehren. Es würde jede Menge Stress und Geschrei geben (von meiner und von ihrer Seite). Bean würde vermutlich den Teig, die Beeren und die Streusel vernaschen, sobald ich mich nur mal kurz umdrehe. Nebenbei mit einem Besucher zu plaudern wäre für mich mit Sicherheit unmöglich.
Genauso wenig würde es mir in den Sinn kommen, dieses Szenario eine Woche später zu wiederholen. Aber in Frankreich scheint das Backen ein wöchentliches Ritual zu sein. Fast jedes Mal, wenn ich am Wochenende eine französische Familie besuche, backt sie einen Kuchen oder serviert mir einen, der am Vortag frisch gebacken wurde.
Erst denke ich, dass das an meinem Besuch liegen muss, merke aber bald, dass es nichts mit mir zu tun hat. An jedem Wochenende verfällt die ganze Nation in einen regelrechten Backrausch. Sobald ein Kind aufrecht sitzen kann, erteilt ihm die Mutter alle ein bis zwei Wochen Backunterricht. Diese Kinder schütten nicht nur Mehl in eine Schüssel oder zerdrücken Bananen. Sie trennen Eier, messen Zucker ab und kneten mit angeborenem Selbstvertrauen. Sie backen doch tatsächlich den ganzen Kuchen allein!
Der erste Kuchen, den französische Kinder backen können, ist ein gâteau au yaourt (Joghurtkuchen). Dabei verwenden sie Joghurtbecher, um alle Zutaten abzumessen. Es ist ein leichter, nicht zu süßer Kuchen, in den man Beeren, Schokostreusel oder abgeriebene Zitronenschale mischen kann. Es ist ziemlich schwer, ihn nicht hinzubekommen.
Das viele Backen
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