Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
versucht, sich in unsere Unterhaltung einzumischen, sagt Martine, »Warte kurz zwei Minuten, Liebes, ich bin mitten im Gespräch.« Sie formuliert das sehr höflich, aber unmissverständlich. Ich staune, wie liebevoll Martine das sagt und wie fest sie daran glaubt, dass Paulette ihr gehorchen wird.
Martine hat ihren Kindern von klein auf beigebracht, sich in Geduld zu üben. Als Paulette noch ein Baby war, hat Martine in der Regel fünf Minuten gewartet, bevor sie das weinende Kind auf den Arm nahm. (Und selbstverständlich konnte Paulette bereits mit zweieinhalb Monaten durchschlafen.)
Martine bringt ihren Kindern auch eine verwandte Fähigkeit bei: die, sich mit sich selbst zu beschäftigen. »Das Wichtigste ist, dass er sich auch mit sich selbst beschäftigen kann«, sagt sie über ihren Sohn Auguste.
Ein Kind, das sich mit sich selbst beschäftigen kann, kann auf diese Fähigkeit zurückgreifen, wenn seine Mutter gerade telefoniert.
Eltern, die diese Fähigkeit zu schätzen wissen, neigen dazu, ein Kind auch einfach mal sich selbst zu überlassen, wenn es sich gut allein beschäftigt. Wenn französische Mütter sagen, es sei entscheidend, auf den Rhythmus des Kindes Rücksicht zu nehmen, meinen sie damit auch, dass sie ein Kind in Ruhe lassen, wenn es friedlich spielt.
Das scheint ein weiteres Beispiel dafür zu sein, wie französische Mütter und Kindergärtnerinnen ganz intuitiv wissenschaftliche Vorschläge befolgen. Laut Walter Mischel gibt es für ein achtzehn bis vierundzwanzig Monate altes Kind, das glücklich mit etwas beschäftigt ist, nichts Schlimmeres, »als dass die Mutter mit einer Gabel Spinat ankommt«.
»Die Mütter, die es wirklich vermasseln, sind diejenigen, die sich einmischen, wenn das Kind beschäftigt ist, sie also weder will noch braucht, aber nicht da sind, wenn das Kind Sehnsucht nach ihnen hat. Dafür ein Gespür zu entwickeln ist absolut wichtig.«
Tatsächlich sagt eine große Studie über die Auswirkungen von Kindertagesbetreuung 13 , dass es vor allem auf die »Sensibilität« von Mutter oder Kindergärtnerin ankomme – darauf, wie gut sie sich in die Wahrnehmungswelt des Kindes einfühlen könne. »Die sensible Mutter bemerkt die Bedürfnisse, Stimmungen, Interessen und Fähigkeiten des Kindes«, so ein Experte »Und sie lässt sich von dieser Aufmerksamkeit leiten, wenn sie mit ihrem Kind interagiert.« Umgekehrt ist es einer depressiven Mutter nicht möglich, sich in ihr Kind einzufühlen.
Mischels Überzeugung, wie wichtig diese Sensibilität ist, ist nicht nur durch wissenschaftliche Studien belegt, sondern auch durch seine eigene Kindheit. Mischels Aussagen nach war seine Mutter wechselweise bemutternd und dann wieder abwesend. Mischel kann bis heute nicht Fahrrad fahren, weil seine Mutter zu viel Angst vor Kopfverletzungen hatte und es ihm deshalb nie beigebracht hat. Doch weder Mutter noch Vater kamen, um Mischels Abschlussrede während der Highschoolfeier zu hören.
Natürlich wollen auch amerikanische und deutsche Eltern, dass ihre Kinder Geduld haben. »Geduld ist eine Tugend«, heißt es doch so schön. Wir ermutigen Kinder, zu teilen, zu warten, bis sie an der Reihe sind, den Tisch zu decken und Klavier zu üben. Aber wir trainieren Geduld längst nicht so konsequent wie die Franzosen. Wie beim Thema Durchschlafen neigen wir dazu, es eher dem Temperament eines Kindes zuzuschreiben, wenn es gut warten kann. Aus unserer Sicht haben Eltern einfach Glück, wenn sie ein Kind haben, das geduldig ist – oder eben nicht.
Französische Eltern und Kindergärtnerinnen können nicht fassen, dass wir so laissez-faire -mäßig mit dieser unverzichtbaren Fähigkeit umgehen. Für sie ist ein Leben mit Kindern, deren Bedürfnisse sofort erfüllt werden müssen, die reinste Hölle. Als ich auf einer Pariser Dinner-Party das Thema dieses Buches erwähne, erzählt der Gastgeber, ein französischer Journalist, dass er ein Jahr in Südkalifornien gelebt hat. Er und seine Frau, eine Richterin, hatten sich mit einem amerikanischen Ehepaar angefreundet und beschlossen, ein gemeinsames Wochenende in Santa Barbara zu verbringen. Bei dieser Gelegenheit sollten sie auch ihre jeweiligen Kinder im Alter zwischen sieben und fünfzehn kennen lernen.
Unsere Gastgeber hat dieses Wochenende schier in den Wahnsinn getrieben. Noch Jahre später wissen sie ganz genau, wie oft die amerikanischen Kinder die Erwachsenen mitten im Satz unterbrochen haben. Es gab auch keine festen Mahlzeiten, die
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