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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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Anschluss Österreichs mit seiner Familie vor den Nazis flieht.
    Irgendwann landet die Familie in Brooklyn. Als Walter mit neun in die staatliche Schule kommt, muss er zurück in den Kindergarten, um Englisch zu lernen. Er erinnert sich daran, auf allen vieren herumgekrochen zu sein, um nicht zu sehr zwischen all den Fünfjährigen hervorzuragen. Mischels Eltern – gebildete Menschen aus der bürgerlichen Mitte Wiens – eröffnen einen Billigladen, mit dem sie sich mühsam über Wasser halten. Seine Mutter, die in Wien leichte Depressionen hatte, fühlte sich von Amerika regelrecht energetisiert. Doch sein Vater sollte nie über den Statusverlust hinwegkommen.
    Diese frühen Erfahrungen zwingen Mischel in die Perspektive des ewigen Außenseiters und helfen ihm dabei, die Fragen zu formulieren, die er dann im Laufe seiner Karriere beantwortet. Mit dreißig stellt er die Persönlichkeitsforschung auf den Kopf, indem er behauptet, dass Charaktereigenschaften nicht starr, sondern kontextabhängig sind. Obwohl er eine Amerikanerin heiratet und mit ihr drei Töchter in Kalifornien aufzieht, beginnt Mischel, jährlich nach Paris zu pilgern. »Ich habe mich stets als Europäer gefühlt, für mich ist Paris die Hauptstadt Europas«, so Mischel. (Mischel, der sich 1996 scheiden lässt, lebt seit zehn Jahren mit einer Französin zusammen. Sie pendeln zwischen New York und Paris.)
    Mischel ist vor allem für seinen »Marshmallow-Test« berühmt, den er sich in den 1960er-Jahren ausgedacht hat. Dabei führt ein Versuchsleiter einen Vier- oder Fünfjährigen in ein Zimmer, in dem ein Marshmallow auf einem Tisch liegt. Der Versuchsleiter sagt dem Kind, dass er den Raum kurz verlassen wird. Schafft es das Kind, das Marshmallow nicht zu essen, bevor er zurückkommt, bekommt es zwei Marshmallows. Isst es das Marshmallow, bekommt es nur das.
    Das ist ein wirklich schwerer Test. Von 653 Kindern, die ihn in den 1960er- und 1970er-Jahren machten, schaffte es nur ein Drittel, das Marshmallow in der Viertelstunde, in der der Versuchsleiter weg war, nicht zu essen. Manche aßen es, kaum dass sie allein waren. Die meisten konnten nur etwa eine halbe Minute warten. 9
    Mitte der 1980er-Jahre suchte Mischel die Kinder des Originalexperiments, die inzwischen Teenager waren, erneut auf, um zu sehen, ob es Unterschiede zwischen den Belohnungsaufschiebern (also den Kindern, die das Marshmallow nicht gegessen hatten und dafür später zwei bekamen) und den anderen gab. Seine Kollegen und er stellten erstaunliche Zusammenhänge fest: Je länger die Kinder als Vierjährige der Versuchung widerstanden hatten, das Marshmallow zu essen, desto besser wurden sie später von Mischel und seinen Kollegen in allen möglichen anderen Kategorien bewertet. Unter anderem waren die Belohnungsaufschieber besser darin, sich zu konzentrieren und logisch zu denken. Laut einem Bericht, den Mischel und seine Kollegen 1988 veröffentlichten, »neigen sie nicht dazu, an Stress zu zerbrechen«.
    Kann es sein, dass Kinder, die man – wie es die Franzosen tun – zu guten Belohnungsaufschiebern erzieht, zu ruhigeren und belastbareren Erwachsenen werden? Während amerikanische Kinder, die daran gewöhnt sind, sofort zu bekommen, was sie wollen, mit Stress nicht fertigwerden? Tun französische Eltern traditionsgemäß und rein intuitiv genau das, was Wissenschaftler wie Mischel empfehlen?
    Bean, die normalerweise sofort bekommt, was sie will, kann sich innerhalb kürzester Zeit von einem gelassenen Kind in ein hysterisches Nervenbündel verwandeln. Und jedes Mal, wenn ich nach Amerika zurückkehre, stelle ich fest, dass missgelaunte, kreischende Kleinkinder, die aus ihrem Kinderwagen gehoben werden wollen oder sich auf den Bürgersteig werfen, zum Alltag gehören.
    Solche Szenen sehe ich in Paris nur selten. Französische Babys und Kleinkinder, die daran gewöhnt sind zu warten, nehmen es erstaunlich gelassen hin, wenn sie nicht gleich bekommen, was sie wollen. Bin ich bei französischen Familien zu Besuch und verbringe Zeit mit ihren Kindern, gibt es kaum Gejammer und Gequengel. Oft – oder zumindest öfter als bei uns zu Hause – sind alle ruhig und gelassen und in das vertieft, was sie gerade tun. In Frankreich erlebe ich häufig, was einem kleinen Wunder gleichkommt: Erwachsene in Gesellschaft von Kleinkindern, die bei sich zu Hause gemütlich Kaffee trinken und sich ganz normal unterhalten.
    Das Warten ist sogar ein fester Bestandteil des elterlichen Vokabulars: Statt

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