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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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Veranstalter die Eltern zu einem formlosen Treffen ein. Die anderen Eltern scheinen viele Gemeinsamkeiten mit uns zu haben: Sie haben studiert und sind gewillt, sich an kalten Samstagvormittagen mit dem Kinderwagen hinauszuwagen, um ihrem Nachwuchs das Schwimmen beizubringen. Jede Familie bekommt eine Dreiviertelstunde Schwimmzeit zugeteilt und wird daran erinnert, dass die Männer – wie in allen öffentlichen Schwimmbädern von Paris – eng anliegende Badehosen statt Shorts tragen sollen. (Angeblich aus Hygienegründen.)
    Wir ziehen uns aus und schlüpfen in der Sammelumkleide so diskret wie möglich in unsere Schwimmsachen. Dann lassen wir uns neben den anderen Kindern und ihren Eltern ins Becken gleiten. Bean wirft mit Plastikbällen, probiert die Wasserrutsche aus und springt von Luftmatratzen. Irgendwann kommt ein Lehrer auf uns zugepaddelt, stellt sich vor und schwimmt wieder weg. Ehe wir’s uns versehen, ist unsere Zeit um, und die nächste Schicht Eltern und Kinder klettert ins Becken.
    Ich gehe davon aus, dass das eine Einführungsveranstaltung war und der eigentliche Kurs in der darauf folgenden Woche losgehen wird. Aber die nächste Stunde verläuft genauso: Viel Herumgespritze, aber niemand bringt den Kindern bei, wie man mit den Beinen strampelt oder schwimmt. Es gibt überhaupt keine organisierte Form der Anleitung. Immer wieder paddelt der Lehrer vorbei, um sicherzustellen, dass wir zufrieden sind.
    Diesmal treibe ich ihn im Becken in die Enge: Wann er vorhabe, meiner Tochter das Schwimmen beizubringen? Er lächelt mich nachsichtig an. »Beim Babyschwimmen lernen die Kinder nicht schwimmen«, sagt er, als sei das völlig offensichtlich. (Später erfahre ich, dass Pariser Kinder in der Regel erst schwimmen lernen, wenn sie sechs sind.)
    Was tun wir dann alle hier? Laut ihm geht es in diesem Kurs darum, die Kinder mit dem Element Wasser vertraut, sie empfänglich dafür zu machen.
    Wie bitte? Bean wurde bereits in der Badewanne mit dem Element Wasser vertraut gemacht. Ich will, dass sie schwimmt! Und das so früh wie möglich, am liebsten schon mit zwei Jahren. Dafür habe ich bezahlt und meine Familie an einem eiskalten Samstagmorgen aus dem Bett gescheucht.
    Ich sehe mich um, und plötzlich wird mir klar, dass all diese Eltern schon beim formlosen Treffen wussten, dass ihre Kinder hier nicht das Schwimmen beigebracht bekommen, sondern nur mit dem Wasser vertraut gemacht werden. Werden diese Kinder beim Klavierunterricht auch nur mit dem Klavier vertraut gemacht, statt zu lernen, wie man darauf spielt?
    Mir fällt auf, dass Franzosen nicht nur ein paar Dinge ein bisschen anders machen. Sie haben eine vollkommen andere Einstellung dazu, wie Kinder lernen und wer sie eigentlich sind. Ich habe nicht nur ein Schwimmkurs-Problem, sondern anscheinend auch ein philosophisches Problem.
    In den 1960er-Jahren kam der Schweizer Psychologe Jean Piaget nach Amerika, um seine Theorien zu den Stadien der kognitiven Kindesentwicklung zu verbreiten. Nach jedem Vortrag stellte ihm jemand aus dem Publikum die »amerikanische Frage«, wie Piaget sie nannte: »Wie können wir diese Stadien beschleunigen?«
    Piagets Antwort lautete jedes Mal: »Warum sollten wir?« Er hielt es weder für möglich noch für erstrebenswert, Kinder dazu zu bringen, vorzeitig bestimmte Fähigkeiten zu erlernen. Er war der Auffassung, dass Kinder diese Meilensteine in dem ihnen gemäßen Tempo erreichen und dazu von einem inneren Motor angetrieben werden.
    Die »amerikanische Frage« offenbart einen entscheidenden Unterschied zwischen französischen und amerikanischen Eltern: Wir Amerikaner – und auch viele Deutsche – glauben, Druck ausüben, stimulieren zu müssen. Wir tragen unsere Kinder von einem Entwicklungsstadium zum nächsten. Je besser die Erziehung, desto schneller werden sich unsere Kinder entwickeln, so glauben wir. In meiner englischsprachigen Spielgruppe in Paris brüsten sich die Mütter damit, dass ihre Kinder schon Musikunterricht nehmen oder auch noch eine portugiesisch-sprachige Spielgruppe besuchen. Aber oft werden diese Mütter sehr einsilbig, wenn es um Details zu diesen Aktivitäten geht, damit ja niemand anders sein Kind auch dazu anmelden kann. Diese Mütter würden niemals zugeben, dass sie miteinander konkurrieren, aber genau das ist deutlich spürbar.
    Französische Eltern scheinen nicht so darauf aus zu sein, ihren Kindern mit allen Mitteln einen Vorsprung vor ihren Altersgenossen zu verschaffen. Sie drängen

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