Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
aufeinandergestapelten bunten Matrosen-T-Shirts gehe. Bean beginnt sofort, sie zu Boden zu reißen. Als ich sie ausschimpfe, hört sie nur kurz damit auf.
Für mich ist Beans schlechtes Benehmen ganz normal für ein Kleinkind. Deshalb staune ich, als die Verkäuferin ohne jede Häme sagt: »Das habe ich noch bei keinem Kind erlebt.« Ich entschuldige mich und eile zur Tür.
Laut Walter Mischel setzt man einen Teufelskreis in Gang, wenn man vor den Kindern kapituliert: »Erleben Kinder, dass man sie erst bittet zu warten, dann aber sofort angelaufen kommt, wenn sie schreien, werden sie sehr schnell lernen, dass Warten sich nicht lohnt. Nicht-Warten, Schreien, Weitermachen und Quengeln werden dagegen belohnt.«
Französische Eltern freuen sich, dass jedes Kind sein eigenes Temperament hat. Aber sie gehen auch davon aus, dass jedes gesunde Kind in der Lage ist, nicht zu quengeln oder einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, wenn man Nein sagt, und dass es auch nicht ständig jammern oder nach Sachen greifen muss.
Französische Eltern bezeichnen die Forderungen ihrer Kinder eher als caprices – als impulsive Launen. Sie haben kein Problem damit, Nein zu sagen. »Ich glaube, dass Französinnen früher als andere Mütter verstanden haben, dass kindliche Bedürfnisse oft unrealistisch sind«, erzählt mir ein Kinderarzt.
Eine französische Psychologin schreibt 15 , dass eine Mutter bei caprices – zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Kind in einem Laden ist, und es unbedingt ein Spielzeug haben will – gelassen bleiben und ihm erklären sollte, dass ein Spielzeugkauf heute nicht auf dem Programm steht. Dann sollte sie das Kind ablenken, indem sie ihm beispielsweise etwas aus ihrem Leben erzählt. »Anekdoten über die Eltern finden Kinder immer interessant«, so die Psychologin. (Nachdem ich das gelesen habe, herrsche ich Simon bei jeder Krise von Bean an: »Erzähl ihr eine Anekdote aus deinem Leben!«)
Die Psychologin schreibt, dass die Mutter dabei mit dem Kind kommunizieren soll, indem sie es umarmt oder ihm in die Augen sieht. Gleichzeitig muss sie ihm begreiflich machen, dass es nicht immer alles haben kann. »Dem Kind darf nicht weisgemacht werden, es sei allmächtig, dürfe alles und könne alles haben.«
Französische Eltern haben keine Angst, dass ihre Kinder durch solche Frustrationserlebnisse Schaden nehmen. Für sie ist der Umgang mit Frustration eine wichtige Fähigkeit. Ihre Kinder müssen das einfach lernen. Es wäre ein großer Fehler, ihnen das nicht beizubringen.
Laurence meint dazu, sie müsse einem Kind, das auf den Arm genommen werden will, wenn sie gerade koche, nur sagen: »Ich kann dich im Moment nicht hochnehmen«, und ihm den Grund dafür nennen.
Das kommt bei den Kindern natürlich nicht immer gut an. Aber Laurence bleibt hart und lässt gleichzeitig zu, dass das Kind seiner Enttäuschung Luft macht: »Ich lasse es nicht acht Stunden am Stück weinen, aber ich lasse es weinen. Ich erkläre ihm geduldig, dass es im Moment nicht anders geht.«
Das passiert oft, wenn sie auf mehrere Kinder gleichzeitig aufpasst. »Ist man gerade mit einem Kind beschäftigt, und das andere will etwas von einem, nimmt man es natürlich hoch, wenn das geht. Aber wenn nicht, sollte man es einfach weinen lassen.«
Französische Experten betrachten die Fähigkeit, ein Nein zu tolerieren, als wichtigen Schritt in der Kindesentwicklung. Dadurch lernt das Kind, dass es noch andere Menschen mit eigenen Bedürfnissen gibt, die genauso wichtig sind wie seine. Eine französische Kinderpsychiaterin schreibt, diese éducation solle beginnen, sobald das Kind drei oder vier Monate alt sei: »Seine Mutter lässt es manchmal kurz warten, führt also so etwas wie eine zeitliche Dimension ein. Aufgrund dieser kleinen Frustrationserlebnisse, mit denen das Kind von den Eltern Tag für Tag konfrontiert wird, genauso wie mit ihrer Liebe, lernt es, sich zu beherrschen, auf seine Allmacht zu verzichten und sich sozial zu verhalten. Dieser Verzicht äußert sich manchmal lautstark, ist aber eine unverzichtbare Übergangsphase.« 16
Aus französischer Sicht tue ich Bean also keinen Gefallen, wenn ich auf ihre Launen eingehe. Französische Experten und Eltern glauben, dass ein Nein die Kinder von der Tyrannei ihrer eigenen Wünsche erlöst. »Als Kleinkind hat man Bedürfnisse und Wünsche, die praktisch kein Ende nehmen. Das ist etwas ganz Elementares. Die Eltern haben die Aufgabe, diesen Prozess zu unterbrechen – und dadurch kommt es zu
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