Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
das freie Herumtoben auf der Wiese (oder im Schwimmbecken). Und andererseits strikte Disziplin. Doch laut Rousseau muss die Freiheit eines Kindes durch elterliche Autorität streng begrenzt werden.
»Wisst ihr, welches das sicherste Mittel ist, euer Kind unglücklich zu machen?«, schreibt er. »Dass ihr es daran gewöhnt, alles zu erlangen; denn seine Wünsche werden infolge der Leichtigkeit ihrer Befriedigung unaufhörlich wachsen, und deshalb wird euch wider euren Willen euer Unvermögen früher oder später zwingen, seinen Bitten eine Weigerung entgegenzusetzen; und diese ungewohnte Weigerung wird ihm mehr Pein verursachen als die Entbehrung des ersehnten Gutes selbst.«
Der größte Erziehungsfehler laut Rousseau ist: Nur weil ein Kind gut argumentieren kann zu glauben, dass seine Argumente dasselbe Gewicht haben müssen wie unsere. »Die schlechteste Erziehung besteht in der gewährten Freiheit, zwischen seinem und eurem Willen zu schwanken, und in einem unaufhörlich zwischen ihm und euch stattfindenden Kampf um Herrschaft.«
Für Rousseau können nur die Eltern die Herrschaft haben. Er scheint häufig den cadre – oder Rahmen – zu beschreiben, an dem sich die heutigen französischen Eltern orientieren. Das Ideal des cadre sieht vor, dass Eltern in bestimmten, zentralen Dingen äußerst streng sind, in allen anderen Dingen aber eher locker.
Fanny erzählt mir, dass sie, noch bevor sie selbst Kinder hatte, einmal einen bekannten französischen Schauspieler über Kindererziehung reden hörte. Er fasste seine Vorstellungen vom cadre , nach dem er selbst erzogen worden war, in folgende Worte: »Erziehung ist ein fester Rahmen, innerhalb dem Freiheit herrscht.« »Und das gefällt mir sehr«, sagt sie. »Ich glaube, dass dieser Rahmen das Kind beruhigt und ihm Sicherheit gibt. Es weiß, dass es tun kann, was es will, aber innerhalb gewisser Grenzen.«
Fast alle französischen Eltern aus meinem Bekanntenkreis bezeichnen sich selbst als »streng«. Das heißt nicht, dass sie ständig barsch sind, sondern nur, dass sie in einigen wenigen wichtigen Dingen sehr konsequent sind. Und die bilden das Rückgrat des cadre .
»Ich neige meist dazu, streng zu sein«, so Fanny. »Es gibt ein paar Regeln, die, wenn man sie vergisst, zu Rückschritten führen. Und die gebe ich nur ungern auf.«
Für Fanny sind das die Bereiche Essen, Schlafen und Fernsehen. »Ansonsten kann sie machen, was sie will«, sagt sie über ihre Tochter Lucie. Selbst innerhalb dieser Kernbereiche versucht Fanny, Lucie noch ein paar Freiheiten und Entscheidungsmöglichkeiten zu lassen. »Der Bereich Fernsehen beinhaltet nicht nur das Fernsehen, sondern auch DVD s. Ich bestimme, wann und wie lange sie fernsehen darf, und Lucie darf die DVD aussuchen. Auch sonst versuche ich, es so zu gestalten. Zum Beispiel morgens beim Anziehen. Ich sage Lucie: ›Zu Hause kannst du anziehen, was du willst. Wenn du im Winter ein Sommerkleid tragen willst – von mir aus! Aber wenn wir rausgehen, bestimme ich.‹ Noch funktioniert es. Mal sehen, was passiert, wenn sie dreizehn ist.«
Der cadre dient nicht dazu, das Kind einzuengen. Aber Rousseaus Erbe hat auch eine andere Seite. Als ich Bean zu ihren ersten Impfungen bringe, wiege ich sie in meinen Armen und entschuldige mich für den Schmerz, den sie erleiden muss. Der französische Kinderarzt rügt mich.
»Man entschuldigt sich dafür doch nicht!«, meint er. »Eine Spritze zu bekommen gehört zum Leben dazu. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen.« Er scheint Rousseau zu zitieren, der schrieb, »Haltet ihr dagegen mit übertriebener Vorsicht jede Art von Unbehaglichkeit von ihnen fern, so legt ihr dadurch den Grund zu großen Leiden.« (Keine Ahnung, was Rousseau von Zäpfchen gehalten hätte!)
Rousseau war nicht sentimental, wenn es um Kinder ging. Er wollte aus »formbarem Lehm« gute Bürger schaffen. Jahrhundertelang haben viele Denker ein Baby noch als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt,betrachtet. Kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts behauptete der amerikanische Psychologe und Philosoph William James, ein Kleinkind erlebe die Welt als » wildes, aufgeregtes Durcheinander«. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galt als gesichert, dass Kinder die Welt und ihre Rolle darin nur sehr langsam begreifen.
In Frankreich hielt sich die Vorstellung, dass Kinder Menschen zweiter Klasse sind, bis in die 1960er-Jahre. Ich habe Franzosen kennen gelernt, die heute um die vierzig sind und als Kinder
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