Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
Anstatt Emile »in ungesunder Stubenluft verkümmern zu lassen, wird man ihn täglich mitten auf eine Wiese führen. Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln; meinetwegen mag er alle Tage hundertmal dabei hinfallen.« Ihm schwebte ein Kind vor, das frei ist, die Welt zu erkunden und zu entdecken, wobei seine Sinne nach und nach »erweckt« werden. »In jeder Jahreszeit darf Emile mit bloßen Füßen (…) umherlaufen«, schrieb er. Er erlaubt dem imaginären Emile nur ein einziges Buch zu lesen: Robinson Crusoe.
Bis ich Emile las, staunte ich über das Gerede von französischen Eltern und Erziehern, dass ihre Kinder »erweckt werden« und »entdecken« sollten.
Einer der Erzieher in Beans Kindertagesstätte schwärmte bei einem Elterntreffen davon, dass die Kinder am Donnerstagvormittag in eine lokale Sporthalle gingen, nicht etwa, um dort zu trainieren, sondern um ihre Körper zu »entdecken«. Das Moto der Kindertagesstätte lautet, dass Kinder »fröhlich und freudig die Welt entdecken sollen«. Eine weitere Tagesstätte heißt einfach nur Enfance et Découverte (»Kindheit und Entdeckung«). Das größte Kompliment, das man einem Baby in Frankreich machen kann, ist, dass es éveillé (»erweckt, aufgeweckt«) ist. Beim »Erwecken« geht es darum, das Kind möglichst vielen Sinneswahrnehmungen auszusetzen, was auch den Geschmackssinn mit einschließt. Das muss nicht bedeuten, dass die Eltern jedes Mal aktiv daran mitwirken. Es kann schon genügen, in den Himmel zu schauen, Essensduft zu schnuppern oder allein auf einer Decke zu spielen. Es geht darum, die Sinne des Kindes zu schärfen und es darauf vorzubereiten, zwischen verschiedenen Erfahrungen zu unterscheiden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind sich zu einem kultivierten Erwachsenen entwickelt und dass es genießen kann. »Erwecken« ist Training für Kinder darin, zu profiter – sprich das Hier und Jetzt zu genießen.
Ich bin natürlich sehr für dieses Erwecken, wer wäre das nicht? Ich wundere mich nur, wie sehr es hier betont wird. Wie Piaget bereits feststellte, sind wir amerikanischen Eltern eher daran interessiert, dass Kinder ganz bestimmte Fähigkeiten erlernen und bestimmte Meilensteine in ihrer Entwicklung erreichen.
Darüber hinaus glauben wir, dass es an den Eltern liegt, wie gut und wie schnell Kinder Fortschritte machen. Das bedeutet, dass die Entscheidungen der Eltern und ihr Eingreifen extrem wichtig sind. Unter diesem Aspekt sind Babyzeichensprache, vorschulische Leseförderung und die Auswahl der richtigen Vorschule für uns von großer Wichtigkeit. Ich kann diesen kulturellen Unterschied in meinem kleinen Pariser Innenhof beobachten. Beans Zimmer ist voll mit schwarzweißen Zeigekarten, ABC -Bauklötzen und den (mittlerweile diskreditierten) Baby-Einstein- DVD s, die wir begeistert von amerikanischen Freunden und Verwandten in Empfang genommen haben. Wir spielen ständig Mozart, um Beans kognitive Entwicklung zu fördern.
Meine französische Nachbarin Anne, die Architektin, hat noch nie etwas von Baby-Einstein- DVD s gehört. Sie interessiert sich auch nicht dafür, als ich ihr davon erzähle. Anne lässt ihr kleines Mädchen lieber irgendwo sitzen und mit alten Spielsachen spielen, die sie auf Hinterhofflohmärkten gekauft hat, oder in unserem gemeinsamen Innenhof herumstreunen.
Später erwähne ich Anne gegenüber, dass es in der Vorschule unseres Viertels einen Tag der offenen Tür gibt. Bean, die zu den Ältesten in der Kindertagesstätte gehört, könnte schon ein Jahr früher hingehen. Das würde bedeuten, dass ich sie aus der Tagesstätte nehme, wo sie meiner Meinung nach nicht ausreichend gefördert wird.
»Wer sollte so etwas wollen?«, fragt Anne. »Es sind nur wenige Jahre, in denen man Kind sein darf.«
Französische Mütter versuchen mit dem »Erwecken« nicht, die kognitive Entwicklung ihrer Kinder zu fördern oder ihre Schulleistungen zu verbessern. Stattdessen glauben sie, das Erwecken helfe den Kindern dabei, »psychologische Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein und Toleranz gegenüber Andersartigem« zu entwickeln. Andere glauben, dass man Kinder verschiedenen Geschmackserlebnissen, Farben und Anblicken aussetzen soll, weil es den Kindern Spaß macht. 20
»Dieser Spaß ist Lebensmotivation«, sagt eine der Mütter. »Hätten wir keinen Spaß, gäbe es auch keinen Grund zu leben.«
Im Paris des 21. Jahrhunderts nimmt Rousseaus Erbe zwei scheinbar widersprüchliche Formen an: Einerseits ist da
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