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Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)

Titel: Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Druckerman
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sie nicht dazu, früher als andere Schwimmen oder Rechnen zu lernen. Sie versuchen nicht, lauter kleine Wunderkinder aus ihnen zu machen. Mir wird hier in Paris nie das Gefühl vermittelt, dass wir mehr oder weniger heimlich um irgendeinen mysteriösen Preis konkurrieren. Auch die Franzosen melden ihre Kinder zum Tennis, zum Fechten und zum Englischunterricht an. Aber sie schmücken sich nicht damit und werden auch nicht einsilbig, wenn man sie dazu befragt, so als seien diese Kurse eine Art Geheimwaffe. Wer sein Kind an einem Samstagvormittag zum Musikunterricht schickt, tut das nicht, um irgendwelche neuronalen Netze zu aktivieren. Sondern ganz einfach, weil es den Kindern Spaß macht. Französische Eltern glauben, dass es gut ist, ein Kind mit etwas »vertraut«, für etwas »empfänglich« zu machen.
    Französische Eltern haben tatsächlich eine ganz andere Einstellung dazu, was ein Kind eigentlich ist. Als ich anfange, mich mit dieser Einstellung zu beschäftigen und mich einzulesen, stoße ich auf zwei Menschen, die in einem Abstand von zweihundert Jahren lebten und großen Einfluss auf die französische Erziehung hatten, und das bis heute: den Philosophen Jean-Jacques Rousseau und eine Französin namens Françoise Dolto, von der ich bis dahin noch nie etwas gehört habe …
    Das moderne französische Erziehungsideal geht auf Rousseau zurück. Der Philosoph war selbst kein besonders guter Vater (und genau wie Piaget nicht mal gebürtiger Franzose). Er wurde 1712 in Genf geboren und hatte keine schöne Kindheit. Seine Mutter starb wenige Tage nach seiner Geburt. Sein einziges Geschwisterchen, ein älterer Bruder, lief von zu Hause weg. Später floh sein Vater, ein Uhrmacher, vor einer Gefängnisstrafe aus Genf und ließ Jean-Jacques bei einem Onkel zurück. Irgendwann zog Rousseau nach Paris. Seine eigenen beiden Kinder gab er gleich nach der Geburt ins Waisenhaus: angeblich um die Ehre ihrer Mutter zu schützen, einer ehemaligen Näherin, die bei ihm als Bedienstete arbeitete.
    Das hat Rousseau jedoch nicht daran gehindert, 1762 Emile oder über die Erziehung zu schreiben. Darin schildert er die Erziehung eines fiktiven Jungen namens Emile (der nach der Pubertät die hübsche, ebenso fiktive Sophie kennen lernen wird). Der deutsche Philosoph Immanuel Kant sollte die Bedeutung dieses Buches später mit der der Französischen Revolution vergleichen. Emiles Einfluss ist so nachhaltig, dass Passagen und Zitate daraus zu regelrechten Erziehungsgeboten geworden sind. Französische Eltern halten noch heute viele der darin vorgestellten Prinzipien für selbstverständlich.
    Emile wurde zu einer Zeit veröffentlicht, als es schlimm um die französische Kindererziehung bestellt war. Ein Pariser Polizeileutnant ging damals davon aus, dass 19 000 der 21 000 im Jahr 1780 in Paris geborenen Kinder mit ihren Ammen in so weit entfernte Regionen wie die Normandie oder das Burgund verschickt wurden 17 . Manche dieser Neugeborenen starben schon unterwegs, während sie in kalten Kutschen hin und her gerüttelt wurden. Viele andere starben in der Obhut der schlecht bezahlten, häufig überlasteten Ammen, die zu viele Kinder annahmen und sie oft monatelange straff eingewickelt ließen – angeblich, damit sie sich nicht selbst verletzten.
    Für Eltern aus der Arbeiterschicht waren Ammen wirtschaftlich die beste Lösung, denn es war billiger, eine Amme zu bezahlen, als jemanden, der die Mutter im Familienbetrieb ersetzte. 18 Für Mütter aus der Oberschicht war es dagegen eine Frage des Lebensstils. Das Kind »stört die Mutter nicht nur in ihrem Eheleben, sondern auch bei ihren Vergnügungen«, schreibt Elisabeth Badinter, eine französische Sozialhistorikerin. 19 Sich um ein Kind zu kümmern war weder amüsant noch chic.
    Rousseau versuchte, all das mit Emile zu ändern. Er forderte die Mütter dazu auf, ihre Kinder selbst zu stillen und zu versorgen. Er prangerte das Einwickeln, »Fallhauben« und »Gängelbänder«, das damalige Zubehör für Kindersicherheit, an. »Weit entfernt, meinen Emile sorgfältig vor jeder Verletzung, die er sich zufügen könnte, zu behüten, würde es mir vielmehr höchst unlieb sein, wenn er sich niemals wehe täte und aufwüchse, ohne den Schmerz kennen zu lernen«, schrieb Rousseau. Greift ein Kind »nach einem scharfen Messer, so packt es doch nicht fest zu und verwundet sich deshalb auch nicht tief.«
    Rousseau fand, dass man Kindern die Möglichkeit geben sollte, sich natürlich zu entwickeln.

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