Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
herausstellt, gibt es auf Französisch nicht nur zwei sondern vier Zauberworte: s’il vous plaît (»bitte«), merci (»danke«), bonjour (»Guten Tag«) und au revoir (»Auf Wiedersehen«). Bitte und danke sind unerlässlich, aber nicht ansatzweise ausreichend. Bonjour und au revoir – vor allem jedoch bonjour – sind ein wesentlicher Bestandteil des Französischwerdens.
»Mir ist es extrem wichtig, dass meine Kinder merci , bonjour und bonjour, madame sagen können«, so Audrey Goutard, die französische Journalistin mit den drei Kindern. »Seit sie ein Jahr alt sind, sage ich ihnen das bis zu fünfzehn Mal am Tag vor – unglaublich, aber wahr.«
Für einige französische Eltern ist ein schlichtes bonjour nicht gut genug. »Die Kinder sollten es selbstbewusst sagen, denn es markiert den Beginn einer jeden Beziehung«, so Virginie, die schlanke Vollzeitmutter. Sie möchte auch, dass ihre Kinder noch höflicher sind, indem sie Bonjour, monsieur! und Bonjour, madame! sagen. Meine Freundin Esther besteht unter Strafandrohung auf ihre bonjours . »Wenn sie nicht bonjour sagt, bekommt sie Stubenarrest. Dann darf sie nicht mit den Gästen zu Abend essen«, erklärt mir Esther. »Also sagt sie es. Es mag nicht das aufrichtigste bonjour sein, aber die Übung macht den Meister. Zumindest hoffe ich das.«
Benoît, Universitätsprofessor und Vater von zwei Kindern, erzählt mir, dass es eine richtige Familienkrise gab, als seine Kinder bei den Großeltern zu Besuch waren. Seine dreijährige Tochter war schlecht gelaunt aufgewacht und wollte ihren Großvater nicht vor dem Frühstück mit bonjour begrüßen. Schließlich schloss man einen Kompromiss und einigte sich darauf, »Pas bonjour, papi!« zu sagen (»Nicht guten Morgen, Opa!«). »Damit hat er sich zufriedengegeben. Auf ihre Art hat sie ihn beachtet«, so Benoît.
Erwachsene sollten sich natürlich auch mit bonjour begrüßen. Meiner Meinung nach werden Touristen in Pariser Cafés und Läden auch deshalb unfreundlich bedient, weil sie ihre Sätze nicht mit bonjour einleiten. Anschließend dürfen sie gern auf Englisch weiterreden, aber es ist unerlässlich, bonjour zu sagen, bevor man in ein Taxi steigt, eine Kellnerin herbeiwinkt oder die Verkäuferin im Laden fragt, ob es die Hose auch eine Größe größer gibt. Sagt man bonjour , gibt man zu verstehen, dass man den anderen ebenfalls als Menschen und nicht nur als Dienstboten betrachtet. Ich staune, wie sich die Leute sichtlich entspannen, nachdem ich ein freundliches, aber bestimmtes Bonjour! von mir gegeben habe. Es signalisiert, dass wir eine zivilisierte Unterhaltung führen können, auch wenn ich mit einem seltsamen Akzent spreche.
In den Vereinigten Staaten muss mich ein vierjähriges Kind nicht begrüßen, wenn es auf Besuch kommt. Es kann sich hinter der Begrüßung seiner Eltern verstecken. Und in einem amerikanischen Kontext wird auch von mir erwartet, dass ich mich damit zufriedengebe. Das Kind gehört in eine andere Welt mit anderen Regeln, ins Kinderreich. Ich bekomme vielleicht von den Eltern zu hören, wie begabt das Kind ist, aber es wird nie das Wort an mich richten.
Als ich in den Vereinigten Staaten an einem Familienessen teilnehme, wundere ich mich, dass die Cousinen und Stiefcousinen am Tisch, die zwischen fünf und vierzehn Jahre alt sind, kein Wort an mich richten, bis ich sie regelrecht dazu zwinge. Manche bringen nur einsilbige Antworten zustande, und sogar die Teenager sind es nicht gewohnt, sich Erwachsenen gegenüber, die sie nicht so gut kennen, selbstbewusst auszudrücken.
Dass die Franzosen so besessen von ihren bonjours sind, liegt auch daran, dass Kinder dort nicht in einer Art Parallelwelt leben. Das Kind grüßt, also ist es. So wie mich jeder Erwachsene, der meine Wohnung betritt, beachten muss, muss mich auch jedes Kind, das hereinkommt, beachten. »Beim Grüßen geht es letztlich darum, jemanden wahrzunehmen«, so Benoît. »Menschen fühlen sich gekränkt, wenn sie von Kindern nicht entsprechend gegrüßt werden.«
Das sind nicht nur soziale Normen, das ist ein nationales Vorhaben. Bei einem Elternabend in Beans Vorschule verkündet ihre Lehrerin, eines der Lernziele bestehe darin, die Namen der Erwachsenen zu lernen (Bean nennt ihre Lehrer beim Vornamen.) und zu üben, bonjour , au revoir und merci zu ihnen zu sagen. Die Broschüre der französischen Regierung teilt mit, dass Kinder in der maternelle beweisen sollen, dass sie »höflich und zuvorkommend« sind. Dazu
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