Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (German Edition)
gehört auch, »den Lehrer morgens und abends zu grüßen, Fragen zu beantworten, sich für Hilfe zu bedanken und niemanden beim Reden zu unterbrechen«.
Französische Kinder schaffen es nicht immer, bonjour zu sagen. Dann läuft ein kleines Ritual ab, bei dem die Mutter oder der Vater das Kind dazu auffordert (»Komm, sag bonjour !«). Der Erwachsene, der begrüßt wird, wartet dann kurz und sagt dem Elternteil freundlich, er solle sich deswegen keine Gedanken machen. Aber auch das scheint Teil der Konvention zu sein.
Den Kindern höfliches Grüßen beizubringen, dient nicht nur den Erwachsenen. Es bringt den Kindern auch bei, dass sie nicht die Einzigen sind, die Gefühle und Bedürfnisse haben.
»Es verhindert Egoismus«, so Esther, die ihre Vierjährige – ein entzückendes, verwöhntes Einzelkind – aus dem Zimmer geholt hat, damit sie mir Auf Wiedersehen sagt. »Kinder, die andere Menschen ignorieren und nicht bonjour oder au revoir sagen, bleiben in ihrem eigenen Kokon. Wie sollen sie da begreifen, dass sie auch geben müssen und nicht nur nehmen dürfen?«
Bonjour und au revoir bringen Kind und Erwachsenen auf gleiche Augenhöhe, zumindest vorübergehend. Das stärkt das Bewusstsein dafür, dass Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind.
Ich komme nicht umhin, mir vorzustellen, dass ein amerikanisches Kind, das grußlos zur Tür hereinkommt, als Nächstes auf meine Couch springt, sich weigert, etwas anderes als Nudeln pur zu essen, und mich in den Fuß beißt, während ich zu Abend esse. Ist es schon der banalsten Anstandsregel enthoben, wird es annehmen, dass auch andere Regeln (noch) nicht für es gelten. Besteht man darauf, dass ein Kind höflich grüßt, signalisiert man ihm und allen anderen, dass es sehr wohl in der Lage ist, sich gut zu benehmen. Und bringt damit die gesamte Interaktion zwischen ihm und den Erwachsenen auf einen guten Weg.
Eltern wissen, dass das Grüßen eine erwachsene Handlung ist. »Ich glaube, dass es gar nicht einfach ist, Guten Tag zu sagen«, meint Denise, eine Medizinethikerin mit zwei Mädchen im Alter von sieben und neun. Aber laut Denise bestärke es die Kinder in der Überzeugung, dass ihre Begrüßung eine Rolle für die Erwachsenen spielt. »Meiner Meinung nach kann ein Kind, das nicht bonjour sagt, kein starkes Selbstbewusstsein haben.«
Das können aber auch die Eltern des Kindes nicht haben, denn schon an der Begrüßung merkt man, ob ein Kind gut erzogen wurde oder nicht. Kinder, die das französische Zauberwort nicht sagen, riskieren es, als mal élevé , als schlecht erzogen, betrachtet zu werden.
Denise erzählt, ihre Jüngste habe mal einen Freund eingeladen, der ziemlich laut herumgeschrien und Denise scherzhaft chérie genannt habe. »Ich habe meinem Mann gesagt, dass der das letzte Mal bei uns war«, vertraut sie mir an. »Ich möchte nicht, dass mein Kind Umgang mit schlecht erzogenen Kindern hat.«
Audrey Goutard hat ein Buch mit dem Titel Le Grand Livre de la Famille geschrieben, in dem sie versucht, einige französische Erziehungsmaximen zu revolutionieren. Aber nicht einmal Goutard wagt es, die Bedeutung von bonjour zu hinterfragen: »Mal ganz ehrlich: Ein Kind, das in Frankreich irgendwo hinkommt und nicht Bonjour, monsieur! oder Bonjour, madame! sagt, ist ein Kind, das man ablehnt«, erzählt sie. »Ein Sechsjähriger, der den Blick nicht vom Fernseher abwenden kann, wenn man zu Besuch kommt … In so einem Fall würde ich sagen, dass er schlecht erzogen ist.« Ich verrate ihr lieber nicht, dass das bei uns vollkommen normal ist.
»Wir sind eine Gesellschaft mit zahlreichen Normen. Hält man sich nicht daran, wird man von der Gesellschaft ausgeschlossen, so simpel ist das. Also nimmt man seinem Kind damit die Chance, sich zu integrieren und Menschen kennen zu lernen. Ich sage in meinem Buch, dass es deshalb besser ist, wenn Kinder diese Normen befolgen.«
Schluck! Mir ist vage aufgefallen, dass französische Kinder bonjour sagen. Aber mir war nicht klar, wie viel davon abhängt. Es ist eine Art sozialer Marker wie gute Zähne in den Vereinigten Staaten. Wer bonjour sagt, zeigt, dass in seine Erziehung investiert wurde und dass er sich an grundlegende Regeln des Zusammenlebens halten wird. Beans drei- und vierjährige Altersgenossen haben bereits Jahre hinter sich, in denen ihnen die bonjours eingetrichtert wurden. Aber Bean nicht. Da nur »bitte« und »danke« zu ihrem Wortschatz gehören, hat sie gerade mal die Hälfte gelernt. Wer
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