Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Titel: Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Flasch
Vom Netzwerk:
nicht mehr sehen; es könnte dabei sterben. Das quasi-ethische Ergebnis: Israel soll in dem Land, das er ihm verspricht, so leben, daß es mit betonter Ausschließlichkeit Gott gehört. Es soll mit einem unsentimentalen Konzept von Liebe diesem Gott anhangen:
    «Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig! Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.» ( Deuteronomium  6,4)
    Sofort wird dieses Liebesgebot erklärt: Israel soll sich exklusiv verstehen und aggressiv gegen die Ureinwohner vorgehen: «Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen» ( Deuteronomium  7,5).
    Christliche Ethiker bezogen schon früh ihre Ethik nicht allein aus dem Dekalog. Sie reinigten die wilde Szenerie der Sinai-Sage mit antik-philosophischen Argumenten. Sie moderierten den Befehlscharakter dieser Gesetze und leiteten nach dem Vorbild der Stoiker deren ethische Inhalte aus dem Konzept der Natur her. Sie hielten sich an den stoischen Grundsatz, richtig leben heiße ‹in Übereinstimmung mit der Natur leben›. Er setzte die vernünftig geordnete Natur voraus, die zwar stofflichen Charakter hatte, aber doch als Gottheit gedacht war. Augustin verband die jüdische Ethik der Bundestreue und des Gehorsams mit der philosophischen Idee der Selbstfindung des Menschen: Ethik war demnach nicht nur Befehlsannahme, sondern Verwirklichung dessen, was alle Menschen ihrer Natur nach wollen, also der Glückseligkeit.
    Auch Thomas von Aquino begann die Darlegung seiner Ethik mit einem Traktat über das Glück, De beatitudine . Er setzte die Freiheit des Willens voraus und die vernünftige Struktur der Natur. Die göttliche Weisheit leuchte uns entgegen in den Gesetzen der Natur, der Offenbarung und der Menschen. Die ethischen Regeln hätten ihre Geltung aus dem Urteilsspruch der natürlichen Vernunft, auch wenn sie im Dekalog nicht vorkämen.    [53]   Der christliche Moralphilosoph will nachweisen, die Gebote des Dekalogs entstammten dem natürlichen Gesetz. Die Vernunft erfasse alles als gut, wozu der Mensch eine ‹natürliche Neigung› habe. Das ‹natürliche Gesetz› ergebe sich aus der Abfolge der natürlichen Neigungen: Als Substanz, die wir sind, hätten wir das naturhafte Ziel der Selbstbewahrung; daher gehöre zu unserer Natur alles, was die Selbstbehauptung in dieser Natur fördert. Als Lebewesen komme uns das von Natur aus zu, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat, so die Vereinigung der Geschlechter und die Sorge für den Nachwuchs. Als vernünftigen Wesen entspreche es unserer Natur, nicht im Irrtum leben zu wollen, die Wahrheit, zuerst die Wahrheit über Gott, kennen und in Gemeinschaft mit anderen vernünftigen Wesen leben zu wollen ( Sth I–II, 94 1). Dies alles sei für uns sittlich geboten, auch wenn es im Dekalog nicht vorkommt.
    Was Thomas ‹Naturgesetz› nennt, ist seine Vernunfterkenntnis unserer Natur, unserer Natur unter dem dreifachen Gesichtspunkt als Substanz , als Lebewesen und als vernünftiges Wesen . Es ist Vernunftgesetz, nicht ‹Naturgesetz› in der modernen Bedeutung dieses Wortes. Dekalog-Ethik ist das längst nicht mehr. Schon Gregor der Große sah den ganzen Umfang der Ethik in den vier philosophischen Tugenden: Klugheit ( prudentia ), Gerechtigkeit ( iustitia ), Maßhalten ( temperantia ) und Stärke oder Tapferkeit ( fortitudo ). Mit der Rezeption der Nikomachischen Ethik des Aristoteles im lateinischen Westen wuchs die Bedeutung dieser vier Kardinaltugenden noch. Thomas von Aquino erklärte ihre Ordnung damit, das Eigentliche der Tugend sei das Gute der Vernunft. Er hat die Dekalog-Ethik auf folgende Weise für Jahrhunderte noch weiter hellenisiert:
    Das vernünftig Gute zu erkennen sei Sache der Klugheit ( prudentia ). Das Anwenden der Vernunftordnung auf unsere Handlungen heiße ‹Gerechtigkeit›. Werde sie auf unsere vitalen Impulse oder Leidenschaften ( passiones ) appliziert, so daß diese die Vernunftordnung nicht stören, dann heiße sie ‹Maßhalten› ( temperantia ). Bestärkt sie die Vernunft darin, nicht aus Furcht vor Gefahr oder Mühsal vom Rechten abzuweichen, dann sei sie die Tugend der ‹Stärke› ( fortitudo, Sth I–II 61, 2).
    3.  Die Bergpredigt
    Der Berg Sinai findet sich nicht auf unseren Karten. Der Dekalog enthält Ethisches nur in rudimentärer Form, gebunden an den Vorteil eines Volks im Eroberungskrieg, verkündet

Weitere Kostenlose Bücher