Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
durch Not. Matthäus nobilitiert sie ethisch durch den Zusatz ‹im Geist›, der bei Lukas fehlt. Es sieht so aus, als schwanke die erste Christenheit zwischen handgreiflicher Lebensumwälzung und deren spiritueller Verdünnung.
Bei Matthäus 5,7–9 preist Jesus sodann die Barmherzigen, die Herzensreinen und die Friedensstifter, also ethisch Qualifizierte. Ihnen sagt er Barmherzigkeit zu und stellt ihnen in Aussicht, sie würden Gott sehen . Auf dem Sinai wäre das ihr Tod gewesen, aber er verspricht ihnen Gottessohnschaft. Jesus spricht bei Lukas überhaupt nicht von dieser Gruppe von Seliggepriesenen; sein Text trifft erst dort wieder mit dem des Matthäus zusammen, wo Jesus die seinetwegen Verfolgten selig preist. [57] Zuerst kündigt Jesus einen bevorstehenden neuen ethischen Gesamtzustand an, dann zeichnet er ethische Handlungen aus: Barmherzigkeit, Reinheit des Herzens und das Stiften von Frieden. Vom Ganzen der Synoptiker her gelesen, stehen alle ethischen Aussagen unter der Bedingung des nahenden Weltendes. Man hat daher von ‹Interimsethik› gesprochen. Jedenfalls erklärt dies den radikalen Verzicht auf Daseinsfürsorge, auch die Feindesliebe. Es beschränkt die Geltung dieser Imperative: Die Welt ist nicht untergegangen. Jesus hat sich über das nahe Ende getäuscht. Wir stehen ethisch unter veränderten Bedingungen. Die Bergpredigt kann heute nicht ohne neue Prüfung der ethischen Orientierung dienen. Kleine radikale Gruppen mögen sich eine Weile an ihr orientieren; Familienväter, Republiken und Großkirchen können das nicht. Unter ihren Bedingungen sackt die Ethik der Bergpredigt zur Utopie zusammen. Sie wird zur desorientierenden Rhetorik.
3.3 ‹Gesinnung›
Jesus, der neue Moses, präzisiert in der Bergpredigt seine ethische Position und vergleicht sie mit dem Dekalog, Matthäus 5,17–5, 48. Mehrfach setzt er an: Ihr habt gehört … ich aber sage euch. Zunächst bestätigt er die mosaische Gesetzgebung in allen Einzelheiten. Er verbietet seinen Jüngern, von ihr irgend etwas wegzunehmen, bezieht also eine entschieden judenchristliche Position, fast als spräche er gegen Paulus. Aber dann geht er die einzelnen Gebote durch: Nicht nur wer tötet, verfällt dem Gericht, auch schon wer seinem ‹Bruder› nur zürnt. Nicht nur wer die Ehe bricht, kommt in die Hölle, sondern auch schon, wer eine Frau lüstern ansieht. Er verbietet nicht nur den Meineid, sondern das Schwören überhaupt. «Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen» (5,36). Nicht Auge um Auge, also keine Vergeltung, sondern Widerstandslosigkeit gegenüber jeder Gewalt: Wenn dir einer dein Hemd nehmen will, gib ihm auch noch den Mantel, 5,40. Wir sollen nicht nur den Nächsten lieben, sondern auch unseren Feind. Es geht in dieser neuen Ethik aber auch um Lohn:
Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? (5,46)
Jesus bestätigt die ethischen Rudimente des Dekalogs, um sie zu überbieten. Er aktualisiert sie; er radikalisiert sie, denn das Gottesreich ist dabei, die irdische Welt zu verwandeln. Manche Ausleger sehen darin den Durchbruch zur eigentlich jesuanischen Ethik: Diese verlange nicht nur äußeres Tun wie im alten Gesetz, sondern verlange, das Innere des Menschen solle gänzlich von ihm bestimmt sein. Er reguliere das Herz, nicht nur das äußere Tun. Damit stelle Jesus das Ethische in seiner Eigenheit heraus. Jede Art von Werkgerechtigkeit habe er damit überwunden. Das richtige Handeln sei nur wertvoll, wenn es der rechten Gesinnung entspringe.
An diesem Lob stört mich zweierlei:
1) Es trifft de facto nicht die Aussage Jesu bei Matthäus . Er sagt nicht, es komme auf die Gesinnung an, sondern auf das Tun. Nur soll das Tun aus einer eschatologisch-radikalen Gesinnung kommen. An den Früchten kann man sie erkennen. Jesus anerkennt allein das Handeln. Auch ich kann die reine Gesinnung so hoch unmöglich schätzen.
2) Zur radikalen Gesinnungsethik gehört, daß das moralische Gesetz allein um seiner selbst willen befolgt wird. Der Lohngedanke paßt nicht zu ihr. Jesus spricht aber vom Lohn und viel mehr noch von der Höllenstrafe. Seine Aussagen stehen dem Berg Sinai näher als Königsberg. Bei der Bewertung von Lebensrichtlinien muß ich fragen, ob sie inhaltlich, also nicht nur nebenbei von einem Irrtum ausgehen. Denn die jesuanische Zuspitzung beruht auf dem Irrtum, das Ende sei nahe. Wer
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