Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Verweis auf den Bundesschluß mit Jahweh, seine Oberherrschaft, seine Befehle. Es wird nicht Gehorsam gefordert, sondern einfache Einsicht und Handlung. Das verlangt Jesus mit Autorität, und die Forderung übersteigt den Rahmen des auserwählten Volks und seiner Geschichte mit Jahweh.
Die goldene Regel findet sich im antiken Griechenland und in Indien; Aristoteles erwähnt sie; Augustin nannte sie in De ordine 2, 25 einen Allerweltsspruch, vulgare proverbium . Sie formuliert allgemein-menschliche Ethik, keine spezielle Vorschrift der frühchristlichen Gemeinde. Freilich formuliert sie ein nur formales Prinzip. Sie sagt nicht, was man sich selbst wünschen und dem anderen zukommen lassen soll. Sie nennt keine religiösen Prämissen, allerdings behauptet Matthäus , sie sei der Inhalt des Gesetzes und der Propheten. Soll sie die Zusammenfassung dessen sein, was Jesus über den Dekalog gesagt hat? Oder bleibt sie ein fremdes Einsprengsel? Ist sie dasselbe wie das Gebot der Feindesliebe? Ist sie mit ihm auch nur vereinbar? Nimmt, wer nach ihr handelt, nicht sich selbst als Maßstab? Es ist keine Besonderheit, daß sie hier positiv formuliert ist. ‹Spezifisch jesuanisch› ist sie nicht. Wer sie dazu machen will, muß annehmen, Matthäus wolle sie im Zusammenhang der Kapitel 5–7 gedeutet wissen. Matthäus nimmt diese Interpretation nicht vor. Er präsentiert die Goldene Regel nicht als Schlüssel der Bergpredigt, eher als deren abstrakte, inhaltlich unbestimmt bleibende Zusammenfassung. Sie läßt sich auch als Egoismus auslegen, als sage sie: ‹Tue das, von dem du willst, daß es dir andere tun.› Doch enthält die Bergrede noch ganz andere Dinge. Von ihnen muß jetzt die Rede sein.
3.2 Das nahe Weltende
Die Bergpredigt insgesamt redet inhaltlich viel bestimmter als die Goldene Regel. Sie nennt die konkrete Situation, in der sie spricht, nämlich den bevorstehenden Anbruch der Gottesherrschaft. Sie setzt den Umbruch des gesamten Lebens als nahe voraus, als habe die radikale Lebensveränderung mit den Wundern Jesu begonnen. Daher nennen die ‹Seligpreisungen› die Armen glücklich, denn ihnen gehört das Reich der Himmel. Glücklich sind die Traurigen, denn sie werden getröstet. Selig sind die Gewaltlosen, jetzt bekommen sie Land.
Hier muß ich etwas genauer auf den Text eingehen. Die vier ersten Seligpreisungen, die Verse 3 bis 6, lauten bei Lukas 6,20–21 anders:
Nach Matthäus 5,3 nennt Jesus die «im Geist Armen» glücklich; bei Lukas sind es einfach «die Armen». Der Ausdruck «im Geist» ist wohl später hinzugefügt. Die ältere Formulierung meinte direkt, sinnlich und sozial wirklich Arme, den unteren Rand der Gesellschaft, die Schwachen. Jesus hält seine Rede vor solchen Leuten. Er preist sie selig, aber nicht, weil sie «im Geist» arm sind, sondern weil ihnen, die jetzt arm sind, das Glück besseren Lebens bevorsteht. Matthäus preist diejenigen selig, die nach der Gerechtigkeit hungern, bei Lukas preist Jesus die, die jetzt wirklich Hunger haben, aber bald zu essen bekommen. Jesus spricht bei Lukas konkret zu armen Leuten.
Hat Lukas die spirituelle Botschaft vergröbert, ins Sinnliche und Soziale gezogen, oder hat Matthäus die Verheißung realer Bodenreform spiritualisiert? Ich kann von Jesus so niedrig nicht denken, daß er vor hungernden Palästinensern in schillernden Ausdrücken vom Glück ‹geistiger› Armut gesprochen hätte. Übrigens bekommen auch nach Matthäus die Gewaltlosen Boden; sie werden «Erde erben» (5,5). Auch hier blieb ein Rest irdisch-sozialen Glücks «vergröbert» stehen. Wenn die Zuhörer Jesu Hunger haben nach der Gerechtigkeit, dann heißt das: Sie wissen, daß sie in ungerechten Verhältnissen leben. Jesus nennt sie «glücklich», weil sich das bald ändern wird, jedenfalls noch zu ihrer Lebenszeit. Durch Umsturz, nicht von unten, sondern von oben, von der Königsherrschaft der Himmel.
Lukas , hat man gesagt, habe die gröbere Form von Glück im Auge. Bei ihm spricht Jesus immerhin seine Zuhörer direkt an: Er sagt ‹Ihr›, statt der dritten Person Plural bei Matthäus.
Die ‹Bergpredigt› [56] ist das spannungsreiche Dokument verschiedener Tendenzen, wohl auch geschichtlicher Phasen:
Die ersten vier Seligpreisungen bei Matthäus sagen den Armen, den Trauernden, den Gewaltlosen und denen, die nach Gerechtigkeit hungern, das bevorstehende Glück an. Die beglückt werden, sind nicht durch ethische Qualitäten ausgezeichnet, sondern
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