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Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Titel: Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Flasch
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Mittelmeer und seine Umgebung zerstört – die Lage des irdischen Paradieses stellte sich als unauffindbar heraus –, aber jetzt verschoben sich die Konzepte von Zeit und Raum, von Vergangenheit und Gegenwart, also von Weltgeschichte. Ergebnisse des Naturwissens veränderten Alltag und religiöse Erfahrung: Der Blitzableiter – in Deutschland ironischerweise zuerst 1769 auf dem Jacobi-Kirchturm in Hamburg – mäßigte die Gewitterangst; er raubte dem Blitz und dem Donner den Charakter des Gotteszorns. Die medizinische Forschung und die Mikrobiologie verminderten Seuchengefahr und Kindersterblichkeit. Die Menschen der Industrieländer lebten länger; Tod und Sterben wurden zu Randerfahrungen. Erdbeben, Mißernten und psychiatrische Auffälligkeiten – die früheren Besessenheiten – wurden zwar nicht lückenlos beherrschbar, ließen sich aber kaum noch als Gottes Zorn über Sünden erklären. Dies veränderte die Rolle Gottes im täglichen Leben; er rückte an den Rand; seine Funktion verschob sich ins Moralische, Sentimentale und Jenseitige. Die christliche Religion war jahrhundertelang Lebenshilfe, Morallehre und Weltorientierung in einem, jetzt verlor sie an Realitätsgehalt. Sowohl ihre Welterklärungen wie ihre Hilfsangebote – Gebet und Buße, Wallfahrten und wohltätige Spenden – erwiesen sich als weniger tauglich. Die Weltgeschichte zeigte sich unendlich reicher als vorher; sie war nicht mehr nur jüdische und römische Vorbereitung der christlichen Offenbarung. Daß Ägypten älter war als das auserwählte Volk, irritierte. Chinas höhere Kultur wurde präsent. Der Eurozentrismus baute ab. Weder Rom noch das weltverlorene Wittenberg standen im Zentrum der Ereignisse, so sehr sie bemüht waren, politisch und publizistisch die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Ich sage nicht, diese Entwicklungen hätten die christliche Religion unmöglich gemacht. Sie haben ihre Lebensbedingungen verändert. Sie haben ihren Realitätsgehalt reduziert. Sie haben sie an den Rand gerückt und in Erklärungsnot gebracht. In den Krisenstunden des 20. Jahrhunderts hat sie entweder klug geschwiegen oder sich auf die Seite der Staatsverbrecher gestellt: 1914, 1933, 1938 und 1939. Nach 1945 hat sie die Christenheit über ihre Rolle in den Schicksalsjahren getäuscht, indem sie beflissen ihre wenigen Märtyrer öffentlich aufbaute. Die christlichen Kirchen haben ein moralisches und politisches Glaubwürdigkeitsproblem, und zwar nicht nur durch ihr Verhalten, sondern bereits mit ihrer Botschaft. Ihren finanziellen Reichtum in der Bundesrepublik sahen nur Außenseiter wie Heinrich Böll als Skandal. Aber bleiben wir bei ihren Lehren; sie kamen immer schwerer an die Hörer.
    Die allgemeinen Lebensverhältnisse der Großstadt wirken individualisierend und auflösend; die allgemeine Mobilität löst Kultgemeinden auf und erschwert die kirchliche Kontrolle des Alltags; das begriffliche Instrumentarium und die Sprache der christlichen Reden verlieren den Boden der Erfahrung. Statt diese objektiven Veränderungen zu analysieren, klagen Kirchendenker den Konsumismus der Spaßgesellschaft an und verurteilen die Diktatur des ‹Relativismus›. Sie verkennen die objektiven Entwicklungen, gegen die sie anrennen: Das Zusammenwachsen zur einen Welt, verkehrs- und nachrichtentechnisch, sowie die politischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Globalisierung nehmen der hiesigen Religion den Anspruch auf Ausschließlichkeit; ökonomische Unsicherheiten und Informationsmassen relativieren objektiv die Religion, stellen sie neben die anderen Lebensgebiete und erzeugen eine Reihe psychischer Nebenwirkungen, die de facto den christlichen Glauben verändern: Einerseits verdrängen sie ihn, andererseits stellen sie ihn als Rückzugsmöglichkeit in die Sphäre kindlichen Vertrauens zur individuellen Verfügung. Wer sie wahrnimmt, aber im Konkurrenzkampf bestehen muß, lebt alltags in einer entzauberten, profanen Welt. Seine Alltagserfahrungen verdrängen in den europäischen Industriegesellschaften die Religion aus der Aufmerksamkeit. Die kapitalistische Ökonomie hat für Europa das Problem des Hungers fast beseitigt, aber das Maß der Unsicherheit erhöht. Sie hat die Arbeit in kleinste Teile zerlegt, die auch maschinell erledigt werden können; sie hat die Beziehung des Menschen zu seinen Produkten ins Massenhafte und Unvorhersehbare gesteigert. Sie hat auch entlastet, hat mehr Freizeit erlaubt und die Unterhaltungsindustrie

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