Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
geschaffen. Sie gab dem Einzelnen den Freiraum, sich seine Kultur und seine Religion selbst zusammenzustellen. Kirchenmitgliedschaft und Gemeindezugehörigkeit traten demgegenüber zurück. Die Erfolge der Medizin veränderten die Bewertung des eigenen Körpers. Sie verlängerten das Leben und drängten das Todesbewußtsein zurück. Sie erhöhten zugleich die Sorge um die eigene Gesundheit. Viele Menschen wollen über ihre Sexualität und Familienplanung selbst bestimmen. Die Autorität von Ahnen und Eltern schrumpft. Die Dynamisierung der Verhältnisse zieht auch die Disposition zum Glauben in ihren Strudel. Sie verändert ihn gerade dort, wo Menschen ihn trotzig gegen die Entwicklung festhalten. Die Erfahrung der ‹Grenzen des Wachstums› führt ihm neue, eingeschüchterte und besorgte Klienten zu. Die intellektuellen Voraussetzungen der Christenheit schwinden, selbst wenn sie in den Medien von ihrer Fremdartigkeit profitiert. Dies will ich genauer beschreiben.
2. Intellektuelle Entwicklungen
Gott und die Seele, Erlösung und Abendmahl, das sind keine beherrschenden Themen mehr. Woher kommt das? Das Desinteresse an ihnen entspringt weder der Oberflächlichkeit der Menschen noch dem Relativismus. Nicht einmal die Mißbrauchsskandale oder Fehler der Kirchenverwaltungen erklären es. Es handelt sich nicht um eine Mode, die morgen vorübergehen wird; ein grundlegender intellektueller Wandel hat seit dem 18. Jahrhundert die europäische Religionslandschaft verändert. Interessierte Kreise rufen ab und zu eine Renaissance der Religion aus. In der Tat wurde die Kriegspolitik von George W. Bush unter Gebeten beschlossen, die das Fernsehen übertrug; in Teheran und Kairo wurde Religion zur politischen Hauptmacht, aber in Westeuropa weht der geistige Wind seit dem 19. Jahrhundert, seit dem Ende von Spätromantik, Idealismus und Restauration, dem christlichen Glauben ins Gesicht. Die Kirchen sind noch da, besetzen als große Arbeitgeber mächtige Stellungen im Sozial-, Rundfunk- und Fernsehwesen, aber ihre Botschaft wird im Alltag kaum gefragt; nur ‹Events› und Touristen verschaffen ihr massive optische Effekte.
Ihre Sprache verrät sie. Sie bleibt abgehoben oder klingt effektheischend laut. Viele, die meisten Menschen, schalten ab. Ihr Deutsch ist unverständlicher als ihr altes Latein. Es hat den Erfahrungsboden verloren; kein Trick der Kanzelberedsamkeit hilft ihm auf. Wittgenstein variierend kann man sagen: Die Grenzen ihrer Sprache sind die Grenzen ihrer Welt. Dies ließe sich in eingehenden Sprachanalysen zeigen, aber ich gewärtige den Einwand, das ergebe nur Geschmacksurteile. Daher lasse ich diesen Faden fallen. Das ändert aber nichts daran, daß nicht zuletzt der Abscheu vor der heutigen Kirchensprache die Menschen aus den Kirchen vertreibt.
Der sprachlichen Verödung und Verkrampfung entspricht die intellektuelle Randlage. Theologien kommen nicht mit ihren früheren großen Themen: Gott, Trinität, Menschwerdung und Ewiges Leben zu Wort, sondern erzeugen Interesse wie Hans Küng durch aufmüpfige Papstkritik oder indem sie wie Eugen Drewermann und Pater Grün grasen auf den Wiesen der Seelenkunde. Die alte Metaphysik, die im deutschen Idealismus die Angriffe durch Hume und Kant überwunden zu haben schien, ist kaum noch da. Manche erforschen sie historisch. Andere beschwören sie rhetorisch. Nur noch Konkordatsprofessoren und kirchliche Angestellte lehren philosophische Theologie. Ich folgere daraus nicht, Metaphysik sei nicht mehr möglich; ich stelle nur den intellektuellen Einschnitt fest. Die Metaphysikkritik mit ihren vielfältigen Formen verändert insgesamt die geistige Situation der christlichen Konfessionen, auch dann, wenn sie sich aus theologischen Gründen von der Metaphysik trennen, also aus der Not eine Tugend machen. Das vertieft den Abstand zur alten Situation, also zu den Jahrhunderten vor 1700 und zu der Harmonie, die Leibniz noch zwischen Glauben und Wissen glaubte herstellen zu können, als er sah, welch ein Bruch im Entstehen war. Damals erhob der christliche Glaube vor allem auf drei Arbeitsfeldern wissenschaftliche bzw. philosophische Ansprüche; heute steht er vor der Frage, ob er sie aufrechterhalten will oder ob er sie aufgeben kann:
1) Der Glaube an die Welterschaffung durch den allmächtigen Gott stützte sich jahrhundertelang auf den philosophischen Theismus, sei’s in der neuplatonischen, sei’s in der aristotelischen Form. Sein Theorienpalast ruhte auf dem
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