Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Wissensbesitz zu sein. Sie fielen der empiristischen bzw. kantianischen Kritik zum Opfer. Man konnte noch an sie glauben, aber sie nicht mehr wissen. Damit verloren die Christen die argumentative Abstützung durch die philosophischen Vorbauten des Glaubens, die Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise, die Katholiken und Protestanten grosso modo bis etwa 1800 relativ ähnlich, nämlich zuerst aristotelisch, dann cartesianisch gefärbt, vortrugen. Zweitens veränderte die historisch-kritische Methode das Bild ihrer geschichtlichen Grundlagen. Die Bibel und die Kirchengeschichte verloren ihre Legenden. Sie wurden untersucht wie andere Geschichtserzählungen auch. Wunder und Weissagungen bewiesen nicht mehr die Wahrheit des Christentums.
In dieser neuen Obdachlosigkeit entwickelten Christen neue intellektuelle Strategien der Glaubensbegründung wie: Gefühl, Erlebnis, Gestaltwahrnehmung, Entscheidung, Sprung, Abenteuer und Gnade. Alle außer der Gnadentheorie sind Nebenprodukte der nachkantischen Philosophie. Sie klangen fromm und bibelnah, aber sie stammten von Jacobi und Schleiermacher, Kierkegaard, Dilthey, Max Scheler, Heidegger, Wittgenstein, und manchmal auch von Ernst Bloch oder der Gestaltpsychologie. Keine von ihnen steht in der Bibel; alle sind sie abstrakte, moderne Reaktionen auf den Wegbruch der metaphysischen und der legendär-historischen Abstützungen. Sie sind nicht alte Glaubensinhalte, sondern Theologenhypothesen jüngeren Datums. Alle bezogen sich auf faktische und intellektuelle Bedingungen seit dem 18. Jahrhundert. Protestanten setzten sich diesen Krisen zuerst aus – nach Kant schon, verstärkt nach 1918 – und entwickelten die Meinungsführerschaft bei der Neukonzeption der Glaubensbegründung. Sie nahmen dem ‹Glauben› die intellektuellen Vorbedingungen und Konnotationen; sie deuteten ihn als ‹Vertrauen›, ohne dem Gläubigen Gewißheit bieten zu können, daß Gott nicht wieder einmal im Zorn die Mehrheit der Menschen für die Hölle bestimmt. Wer diesen geschichtlichen Zusammenhang sieht und die argumentative Qualität der neuen Ersatzangebote prüft, kommt, meine ich, zu dem Ergebnis: Soweit sie nicht offen irrationalistisch und fideistisch werden, schieben sie dem Einzelnen die Entscheidungslast zu, die sich aus einer geschichtlichen Entwicklung ergibt, die kein Einzelner auffangen kann. Sie setzen als rationale Untersuchung an und brechen sie ab. Sie täuschen darüber hinweg, daß sie Zechpreller der Philosophie sind. Sie verdanken sich einer doppelten Negativentwicklung, erwähnen sie aber kaum oder verzerren sie erbaulich. Ich bin kein Christ mehr, denn ich kann nicht zur alten, lange gemeinchristlichen Metaphysik oder zur ‹natürlichen Theologie› zurückkehren. Noch weniger leuchten mir die neuen Ersatzreden ein, die den real- und denkgeschichtlichen Zusammenhang abblenden. Ich wehre mich außerdem gegen die Depotenzierung oder die Schein-Anerkennung des historisch-kritischen Vorgehens. Erst recht gegen dessen Verwechslung mit historistischer Weltanschauung.
Kapitel II
Der wahre Glaube
Was wir eigentlich wissen wollen, ist,
ob die evangelische Geschichte im Ganzen und Einzelnen wahr ist oder nicht.
David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, 1864, S. xv
1. Etwas über ‹Wahrheit›
Wer den christlichen Glauben verkündet und dessen Annahme fordert, trägt ihn vielleicht zunächst als schöne und tiefsinnige Geschichte vor, als trostreich und ethisch gehaltvoll, beharrt aber dann darauf, er sei wahr . Fragt man ihn, was er darunter verstehe, wird er vermutlich antworten, die Ereignisse, die er erzähle, hätten wirklich stattgefunden . Gott habe wirklich die Welt erschaffen. Glaubende ordnen ihre Erzählungen der Wirklichkeit zu und treffen damit eine weittragende Entscheidung. Denn manche christlichen Erzählungen enthalten offenbar märchenhafte Züge; nehmen wir die Geschichte vom Sündenfall: Da geht Gott beim Abendwind in seinem Garten spazieren; er näht Kleider für seine Vertriebenen. Bis etwa 1550 galt das irdische Paradies als eine noch existierende geographische Zone weit «im Osten», doch im Zeitalter der Entdeckungen fand man es nicht. Das war ein schwerer Schlag für die realistischen Prämissen der Theologen. Mehrheitlich, nicht ausnahmslos, reagierten sie darauf, indem sie kluge, komplizierte Zusatzhypothesen ersannen, um den Tatsachengehalt der Paradieserzählung für einige Zeit zu retten. Sie sagten zum Beispiel, die Sintflut habe den Gottesgarten
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