Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
‹Realismus› reduzierten Christenglauben als dessen edlere, geistigere und tiefere Variante. Sie sind schon zufrieden, wenn ein Frommer bekennt, er glaube, um zu glauben. Das geschichtlich-real existierende Christentum dachte über tausend Jahre hin anders. Seine Gottergebenheit entsprach mehr der sizilianischen Verehrung der heiligen Lucia: Wenn schon Religion, dann prall und sozial, als Volksfest mit Wundern, Weihrauch und Trompeten, mit Wein und Porchetta. An einem bestimmten Punkt hören auch nordisch-sublimierte Protestanten mit ihrer Scheu vor Tatsachen, gar sinnlichen, auf. Fragt man sie, ob Gott existiert, werden auch sie buchstäblich. Oder sie verlassen die Glaubensgemeinde, offen oder heimlich. Manche Kirchenmitglieder gestehen, von den Dogmen glaubten sie nichts oder fast nichts mehr. Sie fühlten sich aber nicht vor die Wahl gestellt. Sie ließen es in der Schwebe, ob Erbsünde und Jungfrauengeburt, Trinität oder Auferstehung tiefsinnige Bilder, also ‹Mythen› sind oder ‹Tatsachen›. Vielleicht seien das alles auch Mißverständnisse.
Der ‹Realismus› im Wahrheitskonzept religiöser Reden erzeugt folgenden Zwiespalt: Unwahrscheinlich oft haben Glaubensverkünder zuerst den Tatsachencharakter ihrer Geschichten behauptet und breiteten dann, von Argumenten gegen das Unwahrscheinliche bedrängt, den Schleier der Bildhaftigkeit über das früher als faktisch Behauptete. Was sie zunächst als ‹real passiert› gepredigt hatten, reduzierten sie zuletzt auf ein ‹Zeichen›. Sie machten ganze Katechismen kompatibel mit dem gesunden Menschenverstand, der weiß und auch in der Antike schon wußte, daß Schlangen nicht sprechen und Tote nicht zurückkommen. Oder sie erklärten umgekehrt, das sei der Triumph des Glaubens, daß die Vernunft an ihm scheitere.
Auslegungskünste dieser Art haben seit etwa 1700 das Christentum verändert. Jedenfalls in Westeuropa redet es heute anders und deckt anderes mit Schweigen zu als vor 400 Jahren. Formeln und Immobilienbesitz bleiben. Die Geschichte des Christentums der Neuzeit ist eine Geschichte erzwungener Rückzüge aus dem Feld der Realien; gleichzeitig erscholl der trotzige Gegenruf, es sei eine ‹Religion der Tatsachen›: Die Erwartung des nahen Weltendes und der Wiederkunft Jesu auf den Wolken des Himmels nahm im 2. Jahrhundert ab; der spektakuläre Naturvorgang der herabstürzenden Sterne fand nicht statt; der Schwerpunkt verlagerte sich von Gottes mächtiger Umgestaltung der Welt auf die Unsterblichkeit der Seele, auf Lohn und Strafe im Jenseits. Das war ein erster Gesamtumbau des christlichen Selbstverständnisses. Dann erschütterte Augustin die Überzeugung, alle Getauften würden errettet. Jetzt endeten nicht mehr nur alle Ungetauften im ewigen Höllenfeuer, sondern auch die Mehrheit der Christen. Das Koordinatensystem verschob sich erneut durch die Rezeption der griechischen und arabischen Wissenschaften im 13. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert entstand die humanistische Philologie. Ein anderer Neubeginn fand im 16. und dann wieder im Lauf des 18. Jahrhunderts statt. Die Perennität ist Schein. Sie wird aber in Anspruch genommen. Konservative Mahner raten, Vertrauen schaffe bessere Erkenntnismöglichkeiten als Mißtrauen, aber was sich seit Abaelard, Lorenzo Valla, Erasmus, Richard Simon und Pierre Bayle bewährt hat, war die vom Mißtrauen genährte Philologie, nicht der Legendenglaube. Die zunächst Vertrauensvollen wurden durch Erfahrung gewitzt und entdeckten die Tricks der Autoritäten, ihre Kunst der Umdeutungsrückzüge und des absichtsvollen Verschweigens.
Bei diesen Umbrüchen arbeitete die Voraussetzung, das Christentum sei die wahre Religion, wie die Unruhe in einer Uhr. Normalerweise setzen Deuter die Konzepte von Wahrheit voraus, die sie erlernt haben. Einige Genies wie Anselm und Leibniz entwickelten einen eigenen Begriff von Wahrheit und deuteten mit dessen Hilfe die Tradition, die unter anderen Prämissen zustande gekommen war. Dies muntere Quidproquo steigerte das Mißtrauen. Dagegen half die Zusatzannahme, der Heilige Geist bewahre die Kirche in wahren Deutungen. Philosophen hofften, der Weltgeist schaffe kontinuierlich den Fortschritt der Denkgeschichte.
In Europa entwickelten Wahrheitskonzepte sich nach Regionen, Schulen und individuellen Talenten lokal differenziert und konzeptionell kompliziert. Aber vereinfacht ausgedrückt herrschten zwei Typen des Wahrheitsbegriffs: Einerseits galt als wahr, was mit der idealen Welt
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