Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
begrifflichen oder historischen Rechtfertigung; man muß es nur sehen und erleben.
Damit negieren Ästheten den Anspruch der Glaubenszeugen auf Wahrheit. Wäre Ergriffenheit bei einer Weihnachtsmette oder einem Papstbegräbnis eine hinreichende Motivation, dann würde für die Mehrheit der Menschen die Religion auf Fernsehevents gegründet. So etwas denken die Verächter der Religion unter ihren Verteidigern. Sie setzen Feierlichkeit an die Stelle von Wahrheit. Sie verteidigen die lateinische Liturgie der römischen Kirche, weil deren machtvolle Prosa so schön kontrastiert zum Geplapper der Talkshows und der Predigten.
Aber bloß mit der Rückkehr zu alten Formeln und Feierlichkeiten ist dem Christentum nicht zu helfen. Man muß sich die Frage stellen, ob es wahr ist oder nicht.
Neuntens: Rückblick
Hier möchte ich kurz zurückblicken. Ich habe das Konzept von Philosophie skizziert, das dabei mitspielt. Das Philosophieren über das Christentum besteht nicht darin, eine möglichst umfassende und korrekte Definition von Religion auszutüfteln, sondern die Religion zu untersuchen, die – in einigen Varianten – mein Bewußtsein bestimmt hat. Ich erforsche mich selbst. Das bringt der Titel von Lord Russell gut zum Ausdruck. Aber vielleicht provoziert er die Vorstellung, das Philosophische daran sei, daß eine These aufgestellt und dann verteidigt werde.Das ist aber nicht der Fall, ich beweise keine These, sondern leite an zu einer kohärenten geschichtlichen Analyse. Das Philosophische kommt nicht in immer abstrakteren Begriffsbestimmungen zum Ausdruck, sondern in der Kohärenz der geschichtlichen Analyse. Ich betrachte das Christentum als geschichtlichen Gegenstand. Damit leugne ich nicht seine Gegenwart, sondern betrachte seine Gegenwart in seiner Genese. Das Ziel einer solchen Arbeit ist nicht das einfache Ja oder Nein, nicht eine simple These oder Antithese, sondern das geduldige Dabeibleiben bei der historischen Arbeit und ihrer denkenden Durchdringung. Ich lade ein zur Arbeit, nicht zum Lernen eines Resultats.
Das begann mit den Varianten des Christseins und mit der Frage, in welchem Sinn von ‹Christ› ich keiner mehr bin. Da tat sich eine breite Skala auf, selbst wenn man die vielen kleinen, freien Gruppen wegläßt: Für viele ist Christsein optimistische Weltauffassung für die eigene Person oder für alle oder doch viele Menschen. Spielt die Jenseits-Diesseits-Differenz eine entscheidende Rolle? Tritt das Motiv der jenseitigen Gerechtigkeit hinzu? Ist das Christentum eine Erlösungsreligion, und wovon behauptet es, daß wir erlöst sind? Gehört die Erbsündentheorie wesentlich dazu oder ließe sie sich abtrennen? Und worin genau besteht die Erbsünde? Wie wird sie interpretiert? Ist der Begriff der Seele unentbehrlich, und was heißt ‹Seele›? Gibt es nur noch den Himmel oder auch die Hölle und den Satan?
Diese Differenzen hat das Christentum früh ausgebildet. Auf seinem Weg zur Staatsreligion schuf es feste Regeln, es zu definieren. Das wurden die Glaubensbekenntnisse von Nicea und Chalcedon. Sie geben bis heute der Ostkirche wie den großen Westkirchen das Richtmaß der Orthodoxie. Sie bieten die amtlichen und relativ vollständigen Kriterien dafür, wer Christ ist. Predigerhafte Anpreisungen des Christentums führen oft in die Irre.
Meine Arbeit besteht darin, seine verschiedenen Ausprägungen historisch genau aufzufassen, sie begrifflich präzis zu unterscheiden und das Ganze abzutrennen von bloßen Wunschvorstellungen über das Christentum. Nur dann kann ich sagen, daß ich nach keiner dieser Denominationen ein Christ sein kann. Meine wenigen autobiographischen Hinweise machen plausibel: Meine Kritik betrifft die christlichen Lehren, nicht die kirchlichen Zustände; und ich spreche nicht aus dem Ressentiment des Kirchengeschädigten.
Ich beschreibe reale und intellektuelle Bedingungen der beiden großen christlichen Konfessionen Europas seit dem 18. Jahrhundert, über die Christen sich mit Nichtchristen leicht verständigen könnten: Reale Veränderungen haben auch das Leben der Konfessionen verändert – ich erinnere an Dampfmaschine und Blitzableiter, an Landflucht und Abnahme der Kindersterblichkeit, an Industrialisierung, Globalisierung und Individualisierung. Ebenso einschneidend waren die intellektuellen Entwicklungen: Zwei Bewegungen veränderten Selbstverständnis und Wertewelt der Christen. Erstens: Die Metaphysik Gottes und der Seele hörten auf, allgemeiner
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