Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
korrespondierte, sie abbildete und zu ihr hinführte. Dies war der neuplatonisch-augustinische Typus. Der zweite Typus sah als ‹wahr› an, was sich in der Außenwelt bestätigte. Dann war ‹wahr›, was empirisch vorgefunden oder aus Empirie korrekt gefolgert bzw. verläßlich überliefert wurde. Vor 1700 galten nicht nur in der Religion, sondern auch in Historien von Dynastien und Städten Erzählungen, Wunderberichte und urtümlich klingende Sagen durchweg als bezeugte Fakten.
Meine Zweiteilung von Typen des Wahrheitskonzepts ist weder vollständig noch unterstellt sie, diese Typen kämen in der europäischen Ideengeschichte als reine Formen vor. Mischformen gab es immer. Insbesondere stärkte der biblische Begriff des Bezeugens und des Zeugnisses die Tendenz zum Objektivismus im Konzept der Wahrheit der Religion. Schon im Neuen Testament stellen die Schriftsteller, die Jesus nie gesehen haben, sich als Augen- und Ohrenzeugen vor. Sie sagen, sie redeten nur von dem, was sie gehört, mit eigenen Augen gesehen und mit Händen betastet haben ( 1. Johannesbrief 1,1–3). So mag denn meine Unterscheidung als Sprachregelung vorläufig durchgehen; sie stellt den ersten Typus, den platonisch-augustinistisch-idealistischen, neben den zweiten, den aristotelisch-objektivistischen, auch wenn den Büchern des Aristoteles ganz andere Sichten abzugewinnen waren. Bibeltexte und kirchliche Glaubensentscheidungen entschieden nicht ausdrücklich über das Wahrheitskonzept. Doch hielt der Herrschaftssinn der Glaubensverwalter aller christlichen Konfessionen sich an den ‹gesunden Menschenverstand› und ans biblische Konzept des Bezeugtseins: das Wahrsein der Botschaft zeigte sich demnach in der faktengenauen, fast gerichtsverwertbaren Bestätigung dessen, was Augenzeugen gesehen haben wollten. Das stärkte den Autoritarismus. Ergab das nicht schon das Konzept des Fundamentalismus? Jedenfalls gestatteten die Kirchen vom späten Augustin an, also für Thomas von Aquino wie für Luther, die allegorische Deutung nur als Ergänzung der historisch-faktischen Auslegung und sekundäre Anwendung. Prediger und Erbauungsschriftsteller machten von ihr in dieser sekundären Form reichlichen Gebrauch.
Was als ‹wahr› galt, sollte als Tatsache bezeugt und zugleich immer und für alle wahr sein; dahin drängten: die Logik der Kirchenorganisation, der Platonismus im Wahrheitsbegriff und der Universalismus des antik-philosophischen Vernunftkonzepts. Daher verstanden die Kirchen, nicht nur die römische, sich mit Nachdruck als ‹Lehramt› und definierten ihren Lehrinhalt als unabänderlich. Geschichte sollte ihn nur in der minimalen Form betreffen, daß er allmählich entfaltet habe, was immer schon in ihm lag. Seit dem 18. Jahrhundert zerstörten Forscher, Philosophen und Geschichtsdenker dieses Geschichtsmodell; dadurch gerieten die Kirchen mit ihrer Annahme ihres überzeitlichen Wahrheitsschatzes ins intellektuelle und kulturelle Abseits, auch wenn sie politisch und ökonomisch mächtig blieben.
2. Muß Religion wahr sein?
Im heutigen Europa wird kaum jemand eine Religion bejahen, die er nicht für die wahre Religion hält. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Antike Stadtreligionen verstanden sich als Kultgemeinschaft. Sie fragten nicht nach dem persönlichen ‹Glauben› der Teilnehmer ihrer Veranstaltungen. ‹Fromm› war, wer den Festkalender einhielt. Religion war die Lebensform einer Stadt; da brauchte es keine Wahrheitsdebatte. ‹Wahr› mußte eine Religion erst sein, als sie in Konkurrenz zu anderen trat. Das galt vor allem dort, wo die vorherrschende Religion andere Religionen oder andere Deutungen ihrer Botschaft nicht osmotisch aufsaugte, wie es die Religion des Alten Rom meist tat, sondern als ‹unwahr› zurückwies. Neu auftretende Gruppen verstanden sich, sofern sie überhaupt das Stadium einer Selbstdefinition erreichten, als Wahrheitsverein – als hätten ihre Mitglieder eingangs die Wahrheitsprüfung als Bedingung der Bekehrung vorgenommen. Das war mit der Kindertaufe unvereinbar. Immerhin lag darin das Eingeständnis, daß die ‹Wahrheit› der eigenen Gruppe sich nicht von selbst verstand. Sie galt als Gnadengeschenk und stand doch zunächst als Kandidat unter vielen. Ihr Privileg, einzig wahr zu sein, sollte erst ermittelt, beurteilt und bejaht werden. Dies verschaffte dem Bewerter der Religion vorerst eine gewisse Souveränität. Er stand bei der Vorbereitung des Glaubens über dem, dem
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