Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
und Naturwissenschaften, auch nicht für Einzelfragen der historisch-kritischen Forschung. Es läßt den einzelnen Betrachter entscheiden, gestattet ihm damit aber keine Willkür. Denn das Ich, das für sich und andere plausibel bleiben will, bereitet Wahrheits- und Falschheitsbehauptungen im Blick auf die Wahrheitskriterien anderer vor, auch wenn es für Plausibilität keine absoluten Maßstäbe hat, sondern nur diejenigen, die ihm jetzt und hier für sich und andere hinreichend scheinen. Damit ist Pluralität anerkannt. Wir leben auch als Erkennende in der Zeit. Der Satz vom Widerspruch, in Mathematik und Fachgesprächen unentbehrlich, schlösse nicht aus, daß etwas, das mir heute etwas sagt, in einem Jahr bedeutungslos wird, und daß etwas, das mir etwas sagt, manchem anderen nichts sagt. Und wenn es ihm etwas sagt, sagt es ihm nicht dasselbe. Weil keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere, denkt. Meine Sätze – mit Ausnahme der in alltags-praktischer Hinsicht oder fachwissenschaftlich abgerichteten – behaupten nicht, die einzige, überzeitliche und örtlich unbegrenzte große Wahrheit zu erreichen. Es sind Variationen der Wahrheit, die nebeneinander bestehen können, auch wenn sie sich nach Alltagsansicht und fachlicher Logik widersprechen. Es genügt, wenn sie der Verständigung dienen, auch wenn sie bei einem anderen Ich Widerspruch auslösen.
Die Eigenart poetischer und religiöser Sätze ist nicht hinreichend beschrieben mit dem Satz, daß sie mir etwas sagen. Denn auch wenn mir das Finanzamt einen Steuerbescheid zuschickt, sagt es mir etwas. Auch poetische und religiöse Sätze können am Zuhörer ‹vorbeirauschen›. Als ‹wahr› nimmt sie nur die Person, die sie sich aneignet und auf sich anwendet. Wenn sie ihnen Einfluß gestattet auf ihr Leben. Wenn sie ihre Praxis mitbestimmen. Ihre Wahrheit beweisen ihre ‹Früchte›.
§ 8 Das läuft nicht auf die Unterscheidung zwischen theoretischer und ethisch-praktischer Wahrheit hinaus. Angesichts von Religionskriegen liegt der Vorschlag nahe, die Religionen sollten auf das Konzept theoretischer Wahrheit verzichten und die Wahrheit ihrer Sätze nur als ethisch-praktische verstehen. Dann wäre der Religionsfriede gesichert; wir fänden die Wahrheit der Religion, indem wir sie so lange auslegen, bis etwas Moralisches herauskommt. Für einen solchen Umbau wäre die deutsche christliche Seele wohl am ehesten disponiert, denn sie liebt das Moralisieren, wenn sie sich nicht gerade mal wieder einen Orgasmus des lyrischen Tragizismus verschafft. Die Reduktion der Religion auf die Anerkennung unserer sittlichen Pflichten als göttliche Gebote würde Konflikte und Diskussionen ersparen. Sie würde Dogmatismus und Fundamentalismus ausschließen. Die Welt wäre friedlicher, wenn jeder, der für den Islam oder das Christentum kämpft – sei’s mit Worten, sei’s mit Waffen –, die Ehre seines Gottes nur durch Nächstenliebe sichern wollte.
Die Reduktion der Wahrheit religiöser Sätze auf ethisches Verhalten entspricht einem prophetischen und christlichen Impuls. Sie ist entstanden als christliche Reaktion auf die de facto herrschende Verwandlung der Religion in Ritendienst und Pfaffentum. Sie erlegt dem christlichen Bewußtsein auf, liturgischen – gerade auch eucharistischen – Sentimentalisierungen zu entsagen. Vollends ausschließen würde sie es, daß irgendein Christ sich zum Gebet niederkniet, solange Fernsehkameras laufen. Religionen haben eine Tendenz, im Ritualismus zu erstarren und das auch noch öffentlich zu zelebrieren. Sie ersetzen Regungen des Herzens und des Willens durch Bewegungen der Füße. In den Debatten über die Beschneidung im Herbst 2012 überraschte ein hoher Repräsentant des Judentums mit dem Satz, die Beschneidung mache den Juden. Gegenüber dieser irreligiösen Reduktion einer ehrwürdigen Religion auf kurzen Messerschnitt lobe ich mir deren Reduktion auf Gehorsam und Nächstenliebe bei Spinoza. Und doch sind Religion, Ethik und Kunst nicht dasselbe. Religion ist vielgestaltiger, bunter, uriger. Sie erzeugt poetische Vielfalt und Geschichtsbezug. Bestünde sie nur darin, unseren ethischen Pflichten als Gottes Geboten zu gehorchen, dann zögen zwar viele Wolken salbadernder Rhetorik ab, aber es bliebe auch ein ausgetrocknetes Gelände zurück: Es verschwänden Legenden und Gebräuche. Religion erstarrt, wenn sie prinzipiell ritualistisch oder wenn sie moralistisch verstanden wird. Ihre Geschichten sind
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