Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
kann. Ich weiß, welche Strafe den trifft, der sich darum nicht vorher kümmert. In solche alltäglich-praktischen Erfahrungen sind theoretische Momente eingelagert. Es gibt keinen Grund, Reden über die christliche Religion mit konventionellem Jammern über die Grenzen des menschlichen Denkens zu beginnen.
Skepsis bleibt angebracht. Vor allem wenn die Wahrheitsformel zu metaphysisch genommen wird. Wer die Erkennbarkeit der Welt damit begründet, daß die Geschöpfe zwischen zwei Intellekten aufgestellt seien, dem Denken des Schöpfers und dem Denken des Menschen, [11] fängt zu hoch an. Seine Überlegung setzt voraus, das Dasein Gottes sei bereits wahrheitsentsprechend erkannt. Er hat keine Frage nach der Wahrheit. Er glaubt zu wissen, Gott sei die Wahrheit.
§ 2 Die Suche nach der Wahrheit kommt nicht aus ohne das ‹Ich›. Manchmal drückt ‹Ich› rücksichtslosen Selbstbehauptungswillen aus. Doch jeder Europäer, der einen Satz wahr oder falsch nennt, braucht das Wort ‹ich› oder eine auf die erste Person Singular abgewandelte Verbform. Sagt jemand: ‹Ich denke, daß …›, dann bezeichnet dieses Ich, das alle seine Sätze begleiten kann, ein unschuldiges, ein unvermeidliches Ich. Dieses Ich sagt etwas, und sagt etwas zu einem Anderen, und es weiß, daß die andere Person auch ein Ich ist. Wenn sie etwas sagt, was wahr oder falsch sein soll, betritt sie ein Spielfeld, in dem sprachliche und gedankliche Regeln gelten, an denen historische Apriori mitarbeiten. Und das Ich weiß vorher, daß es verliert, wenn es sich nicht darum kümmert, nach welchen Regeln die andere Person Sätze bejaht oder verneint. Es weiß auch, daß es darüber nur Vermutungen erreicht. Einen allzu hohen Grad der Selbstbezogenheit kann dieses Ich sich nicht erlauben, weder vor sich selbst, wenn die Seele sich mit sich selbst unterhält, noch vor anderen. Es weiß: Es ist ein Ich unter anderen; es kann und will (in der Regel) keinen Satz an den Zustimmungsbedingungen der Anderen vorbei ins Innere der Gesprächspartner einschmuggeln. Solche Manipulationen kommen vor, sind aber im Prinzip als solche durchschaubar.
§ 3 Das erkennenwollende Ich ist auf Wechselseitigkeit angelegt. Es selbst legt es darauf an. Es weiß, daß andere erkennende und handelnde Ichs unter geschichtlichen Bedingungen reflektieren und agieren; es kann diese Erkenntnis auf sich zurückbeziehen. Es erfaßt menschliches Denken und Handeln, fremdes und eigenes, als geschichtlich vorgeprägt . Das wahrheitsbedürftige, auf Wechselseitigkeit hinlebende Ich kann diese Vorprägungen bei sich und anderen erforschen und damit seine Kriterien für ‹wahr› und ‹falsch› vermutend verbessern. Es kann sie nicht als endgültig etablieren, denn sie sind geschichtlich variabel. Deswegen sind sie nicht unerforschlich. Historische Forschung, Lebenserfahrung und konkrete Umsicht vermindern die Irrtumsmöglichkeiten, die es nicht ablegen, aber eindämmen kann. Das Ich weiß sich als den Ort von Erkenntnis, von Wahrheit und Irrtum, aber es installiert damit nicht Willkür. Denn so weit es ihm nötig ist, beachtet es seine Kriterien und die Maßstäbe der anderen Ichs, denen es seine Vorstellungen plausibel machen will. Das verhindert den vielfach verschrieenen Relativismus.
§ 4 Nicht nur im Hinblick auf Religion ist es nötig und möglich, über ‹Wahrheit› neu nachzudenken. Die zuvor genannten Konzepte von ‹Wahrheit› – erstens als Korrespondenz zu Ideen oder zweitens als Bestätigtsein durch empirische Daten – sind auch außerhalb der Religionsphilosophie zu kritisieren. Gegen die Ideenlehre (im konventionellen Verständnis) kann man einwenden, für reine Ideen reiche unser Intellekt nicht aus, solche Ideen seien an Mathematik und Ethik orientierte Konstruktionen. Auf Christentum oder Islam angewendet, suggeriert diese Wahrheitskonzeption, die Religion müsse unveränderlich sein, weil sie wahr ist. Diese Prämisse zu streichen, macht den Umgang mit religiösen Wahrheiten flexibler.
Zur zweiten Gruppe von Wahrheitskandidaten, zur Berufung auf empirische Daten: Wir erreichen die ‹Tatsachen› nicht, um unsere Wahrheit über sie zu kontrollieren, außerhalb unseres Denkens. Der ‹extramentale› Maßstab der Annäherung an die Sache kommt nur in unserem Denken vor. Wir haben also Anlaß, an den beiden einflußreichsten Wahrheitskonzepten zu zweifeln.
Aufzugeben ist die naiv-realistische Vorstellung, das menschliche Erkennen übertrage
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