Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
vielgestaltig und inhaltsreich. Mögen sie fiktiv sein – sie halten Personen und Situationen, auch Landschaften in Erinnerung, situations- und personen-, oft auch regionalgebunden; ihre Wahrheit geht schwerlich in ethischen Anweisungen auf. Religiöse Erzählungen zeigen eine andere Weltansicht. Fromme Sätze sagen, was Gott getan hat, nicht so sehr, was wir tun oder gar, was wir erst noch tun sollen und dann meist noch nicht einmal tun. Der ethische Appell stellt den Einzelnen, sein Gewissen und sein Sollen in den Mittelpunkt; religiöse Erzählungen handeln von umfassenderen Dingen, z.B. vom Auszug eines Volkes aus Ägypten, die aber de facto gar nicht stattgefunden haben müssen und der in diesem Fall wohl auch nie stattgefunden hat. Adäquater wäre das quasi-poetische Wahrheitskonzept, das uns beim Lesen von Dichtung, auch beim Sehen von Dramen oder Filmen leitet und daran hindert, den Urheber der Fiktion der Lüge zu bezichtigen. Es schlösse praktische Folgen ein; es machte das Wahrheitsbewußtsein einzelner Gruppen kompatibel mit friedlichem Zusammenleben.
§ 9 Einen kritischen Blick verdient der Sprachgebrauch: Das Wort ‹Wahrheitsanspruch› hat sich eingeschlichen und wird gebraucht, als bedürfe nicht jeder Anspruch einer Rechtfertigung. Nicht alle Ansprüche sind begründet, nicht alle begründeten werden erfüllt. Das feierliche Wort bekräftigt den Anspruch auf die Wahrheit eigener Behauptungen und verdeckt, wer und mit welcher Legitimation den Anspruch erhebt – als sei es die Wahrheit selbst, die ihn stellt.
Ich komme zum Resultat: Ein relativierter Wahrheitsbegriff wäre keine bloße Verlegenheitslösung, keine hastige Neuerfindung. Er kommt im täglichen Leben vor – beim Anhören von Berichten, biographischen Erzählungen und beim Lesen von Romanen. Wenn Homer vorgelesen wird, fragt zunächst niemand, wo Troja ‹wirklich› gelegen habe. Das wirklichste Troja kommt in der Ilias vor, das genügt. Nur Fachgelehrte stellen die historisch-geographische Frage. Das mag für Spezialisten eine nützliche Tätigkeit sein; ihnen sagt es offenbar etwas, wenn Raoul Schrott eine neue und vermutlich falsche Hypothese über das historische Troja propagiert. Den Leser der Dichtung geht das nichts an. Ihm sagt die Ilias etwas, wo immer die Stadt gelegen haben mag.
Den besten Beweis für die Unabhängigkeit der Wahrheit der Dichtung erbringen Märchen und Fabeln. Kein Zuhörer will sie ‹realistisch› überprüfen, obwohl es in der zoologischen Realität auch Füchse und Bären gibt. Aber von ihnen genügt es, das zu wissen, was das Märchen über sie sagt. Man kann Märchen umformen, erweitern und verkürzen, widerlegen kann man sie nicht. Das Schlimmste, was mit ihnen passieren kann, ist, daß sie mir oder gar einer ganzen Generation nichts mehr sagen. Märchen sind zu klug, von sich zu behaupten, sie seien nicht erfunden. Sie stellen sich außerhalb der Alternative von ‹realistisch gegeben› und beliebiger Erfindung. Wer sie hört oder liest, tritt ein in ihre Welt und macht die Probe, ob sie ihm etwas sagen. Diese mag negativ oder unentschieden ausfallen, das macht dem Märchen nichts. Wer sie erzählt, ist deswegen weder unernst noch unehrlich.
Könnten religiös ernsthafte Menschen eine solche abgespeckte Theorie der Wahrheit ihrer Religion akzeptieren? Empört sie nicht schon mein Vergleich mit Märchen und Gedichten?
Das müßte nicht sein. Der reduzierte Wahrheitsbegriff sagt nicht, alle Texte seien Märchen. Ein Gerichtsbeschluß, eine mathematische Abhandlung und eine Gottesoffenbarung sind alle im gleichen Maße ‹Texte›, aber sie haben verschiedenen Inhalt, und auf diese Verschiedenheit kommt es an. Wenn ich sie als Texte nehme, die mir etwas sagen, identifiziere ich nicht ihren Inhalt. Das Märchen von Rotkäppchen ist mir nicht gleichbedeutend mit Büchners Woyzeck . Ich verlange von mir die größte Aufmerksamkeit auf ihren Inhalt, aber ich suche sie nicht nach einem objektiv vorgegebenen quasi-historisch-faktischen Realitätskern ab. Ich suche keinen Menschen, der sie ‹bezeugt›. Unter dieser Voraussetzung nehme ich ein Märchen, den Woyzeck, aber auch ein Gemälde oder eine Liebeserklärung wahr. Bei ihnen allen gibt es nichts zu kontrollieren. Wem das Rotkäppchen nichts mehr sagt, ist nicht damit geholfen, daß in einem Buch mit dem Titel Und das Märchen hat doch recht der Nachweis steht, daß es früher in deutschen Wäldern Wölfe gab.
Nimmt nicht jeder Muslim
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