Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
den erkannten Gegenstand durch ein Erkenntnisbild in die Seele des Erkennenden und die Wahrheit wäre für Menschen die Angleichung des Erkennenden an das Erkannte durch Einwirkung des Gegenstands, auch wenn Urteilen eine eigene Tätigkeit sei. [12] Dieses Modell der Erkenntnis schließt Sprache und geschichtliche Welt, Individualität und Sozialität aus und heißt daher mit Recht ‹naiv›. Es gibt dem isoliert vorgestellten Gegenstand eine kausale Erheblichkeit, die ihm nicht einmal bei der sinnlichen Wahrnehmung zukommt. Denn diese muß man sich verschaffen; man muß sie wollen im Vollzug eines Lebensinteresses, und sei es das der Ablenkung und Erholung.
§ 5 Die ältere Philosophie hat die Eigenart menschlicher Erkenntnis noch aus einem anderen Grund verfehlt und auf dem Weg über ihr Wahrheitskonzept das Nachdenken über die christliche Religion einseitig gemacht. Sie hat nämlich von der menschlichen Vernunft behauptet, sie sei nur dann Vernunft, wenn sie Wahres erkenne. Ein Intellekt, der Falsches wisse, wisse gar nichts; er sei kein Intellekt. Dieses Denkmodell kannte die menschliche Vernunft als Erkenntnis des Wahren. Dafür konnten mittelalterliche Philosophen sich auf Aristoteles und Augustin stützen. Sie definierten Intellekt als das, was das Wesen der Dinge erfaßt, und folgerten, ein Intellekt, der irrt, sei kein Intellekt. Die menschliche Erkenntnis als Konstruktion, als Versuch und Irrtum, als gemeinsamer, variabler und zeitgebundener Entwurf, kam in dieser Erkenntnislehre nicht vor. Zwar setzte sie voraus, daß Wahrheit im menschlichen Denken spontane Operationen verlange, aber wenn sie sich bei der wissenschaftlichen Erörterung christlicher Wahrheiten an die Definition des Intellekts hielten, der immer nur Wahres erkenne, dachten sie die Wahrheit als ein für allemal gegeben, als unveränderlich und sicher. Entwicklung konnte sie nur in einem der Dogmatik untergeordneten Sinn haben. Ihr Christentum hatte keine Geschichte, höchstens als Geschichte seiner gesellschaftlichen Durchsetzung, als kontingenten Zusatz zum bleibend Wahren.
§ 6 Nehmen wir an, das Ich A will dem Ich B eine Reihe von Sätzen mitteilen, von deren empirischer Richtigkeit und Überprüfbarkeit es überzeugt ist. Es macht sich aber klar, daß es die empirischen Gegenstände nicht in ihrem Ansich, außerhalb seiner Vorstellungen von ihnen, vorzeigen kann. Es kann nicht den ‹Gegenstand›, ‹wie er an sich ist›, abbilden und seine Vorstellung mit der ‹Sache selbst› vergleichen, denn auch von dieser Sache weiß es nur, sofern sie in seiner Vorstellung vorkommt. Im ‹Gespräch mit sich selbst› ist es in derselben Lage: Es kann seine Vorstellungen nicht mit der ‹Tatsache› selbst vergleichen, sondern immer nur seine erste Vorstellung von der Sache mit der zweiten oder dritten. Daraus folgt nicht der radikale Skeptizismus. Denn das Ich A weiß vom Ich B, daß es wie es selbst Maßstäbe der Plausibilität ins Spiel bringt, aufgrund deren es Vorstellungen von der ‹Tatsache› entwickelt und bewertet. Nach diesen Kriterien kann das Ich A fragen und sie mit B diskutieren. Es braucht sie nicht bis zu einer letzten Wahrheitsquelle zurückzuverfolgen. Es genügt, wenn es ad hoc eine Verständigung erreicht oder als unerreichbar erkennt. Wer es nötig findet, kann den Gründen der Verschiedenheit zwischen den Wirklichkeitskriterien von A und B und C weiter nachforschen, bis er dafür plausible Gründe findet, mit denen er sich zufrieden gibt.
§ 7 Gespräche über die Wahrheit der Religion stünden unter neuen Bedingungen, verzichteten die Teilnehmer im angedeuteten Sinn auf absolute Wahrheit, ohne darüber fideistische Skeptiker zu werden. Die Skepsis bleibt bezüglich der Vorstellungen von Ich A und Ich B. Niemand versteht den andern.
Es stellt sich die Frage nach der Besonderheit religiöser Sätze. Ich bin versucht, ihre ‹Wahrheit› neu zu definieren, indem ich sage, eine religiöse Aussagenreihe soll dann als ‹wahr› gelten, wenn sie jemandem etwas sagt . Dann bezöge ich ihre Wahrheit auf den Einzelnen, von dem ich weiß, daß ihm eine religiöse Rede vielleicht vor einem Jahr nichts gesagt hat, während sie ihm heute etwas sagt, vielleicht morgen wieder nicht. Dieses Wahrheitskonzept religiöser Sätze würde verlangen, daß das Ich sie auf sich bezieht, und zwar auf seine ganze Person, nicht nebensächlich. Es wäre nach Sachgebieten zu beschränken; es gälte nicht für Mathematik
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