Warum Liebe Weh Tut
mitnichten von der Wirklichkeit abgekoppelt, sondern unterhält eine enge Beziehung mit der sinnlichen oder »realen« Erfahrung, an deren Stelle sie oft auch tritt. 360 Hobbes verglich sie mit »verkümmerten Sinnesempfindungen«, dem schwachen Abglanz einer ursprünglichen Wahrnehmung. In Das Imaginäre verfolgt Jean-Paul Sartre diesen Gedanken und stellt fest, daß die Einbildungskraft zwar oft für ein mächtigeres Vermögen als die gewöhnliche Wahrnehmung gehalten wird, in Wirklichkeit aber doch ein fahles Echo der Sinne ist. [5] Man schließe die Augen und stelle sich das Gesicht eines geliebten Menschen vor, sagt Sartre, und welches Bild auch immer man heraufbeschwört, es wird »dünn«, »trocken«, »zweidimensional« und »reglos« wirken. [6] Dem vorgestellten Objekt fehlt einfach das, was Elaine Scarry die Lebhaftigkeit und Vitalität des mit den Sinnen wahrgenommenen Objekts nennt. [7] Dieser Ansicht zufolge ist Einbildungskraft das Vermögen, durch empfundene Sinneseindrücke, die dem nahekommen, was sie im wirklichen Leben wären, einen Ersatz für die reale Erfahrung des realen Objekts zu schaffen. Sie kündigt somit die Wirklichkeit nicht auf, sondern versucht sie im Gegenteil nachzuahmen, indem sie sich auf Eindrücke und Gefühle stützt, die das Abwesende vergegenwärtigen.
Und doch stellt ihre am weitesten verbreitete philosophische Auffassung die Einbildungskraft als eine phantastische Schöpfung dar, die den Geist nachdrücklicher in Beschlag nimmt als die gewöhnliche Sinneswahrnehmung und uns von der Wirklichkeit trennt. Shakespeares Bild für diese Sichtweise ist berühmt geworden:
361 Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luft’ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz. [8]
Hier ist die Einbildungskraft das Vermögen, etwas zu erfinden, das vorher nicht da war, und unsere gelebte Erfahrung durch Erfindungen und Schöpfungen, die das Formlose »gestalten«, zu erweitern und zu intensivieren. Dieses Verständnis des Vorstellungsvermögens ist besonders einschlägig für das Reich der Liebe, in dem sich das Objekt der Liebe und Imagination durch Lebenskraft und Vitalität auszeichnet. Sowohl die gewöhnliche Erfahrung als auch ein umfangreicher Korpus philosophischer und literarischer Werke bestätigen die Tatsache, daß in der Liebe die imaginäre Beschwörung des oder der Geliebten so mächtig ist wie seine oder ihre Gegenwart – ebenso wie die Tatsache, daß wir das Objekt unserer Begierden zu einem Großteil erfinden, wenn wir lieben. Vielleicht kann man nirgendwo deutlicher als in der Liebe die konstitutive Rolle der Einbildungskraft beobachten, also ihre Fähigkeit, ein reales Objekt zu ersetzen und zu erzeugen. Gerade weil die Liebe ihr Objekt mittels Einbildungskraft erschaffen kann, hat die Frage nach der Authentizität der durch letztere ausgelösten Gefühle die westliche Kultur immer angetrieben. Aus diesem Grund war die Authentizität des Liebeserlebnisses und der Liebesgefühle im 20. Jahrhundert ein so interessantes Forschungsfeld im Zusammenhang mit der Analyse des Subjekts, wobei hier auch eine ältere Tradition mitschwang, die die Quellen des Liebesgefühls kritisch hinterfragte. Von Heidegger über Adorno und Horkheimer bis Baudrillard galt die Moderne als eine Epoche, in der die Erfahrung und ihre Repräsentation immer weiter auseinanderfallen – und erstere zu einem Spezialfall von letzterer gemacht wird.
362 Der klassische literarische Ort für die Frage nach dem epistemischen Status der Einbildungskraft ist Shakespeares Ein Sommernachtstraum . Trotz seines fröhlich-festlichen Charakters, trotz seines Gewimmels von Elfen und mythologischen Figuren ist Der Traum , wie er in Schauspielerkreisen auch genannt wird, eine schwarze Komödie über das menschliche Herz und seine Launen und Tücken. Diese Schwärze rührt von der besonderen Weise her, wie Shakespeare mit dem Begriff der Einbildungskraft den Gegensatz zwischen Vernunft und Liebe zur Sprache bringt. Wie Zettel zu Titania sagt, »halten Vernunft und Liebe heutzutage nicht viel Gemeinschaft«, [9] und es ist dieser altehrwürdige Gegensatz, der das Stück strukturiert. Für eine oberflächliche Lesart dieses Gegensatzes inszeniert der Sommernachtstraum den Topos, die Liebe sei deshalb ein gefährliches oder lächerliches Gefühl, weil sie nicht rational zu wählen vermag, insofern der Hauptsitz der
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