Warum Liebe Weh Tut
auch für die Entwicklung des modernen Gefühlslebens. [1] Webers Entzauberungsthese auf interessante Weise variierend, behauptet Theodor W. Adorno, daß die Einbildungskraft von zentraler Bedeutung für die bürgerliche Gesellschaft war, insofern sie sich zu einer zugleich produktiven und konsumtiven Kraft entwickelte, einem Teil der ästhetischen Kultur des Kapitalismus. In seiner Einleitung zu Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie führt Adorno aus, daß die bürgerliche Moderne mit der Ausbreitung ihrer Kulturtechniken die regellose, assoziative Form des Denkens einhegte. Die Einbildungskraft habe sich im 18. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff der 358 ästhetischen Diskussion entwickelt, sei aber auch auf diesen Bereich beschränkt worden. Seit Ende des 18. Jahrhunderts, so Adorno, ist die Einbildungskraft zu einer institutionalisierten Praxis auf dem Feld der Ästhetik und später in der Massenkultur geworden. Seiner Auffassung zufolge ist der geregelte, institutionalisierte, warenförmige Gebrauch der Einbildungskraft zentral für eine moderne bürgerliche Konsumgesellschaft. Die gefällige postmoderne These, das moderne Subjekt zeichne sich durch eine Vervielfältigung seiner Begierden aus, wird aus dieser Perspektive um den Gedanken ergänzt, daß diese Wucherung der Begierden eine Folge der Institutionalisierung der Einbildungskraft war. Mehr noch: Die Institutionalisierung der Einbildungs- oder Vorstellungskraft hat selbst das Wesen des Begehrens im allgemeinen und des romantischen Begehrens im besonderen nicht unberührt gelassen: Sie hat die kulturellen Phantasien, in denen sich die Menschen die Liebe als Geschichte, als Ereignis und als Gefühl ausmalen, wesentlich deutlicher kodifiziert als zuvor und eine imaginäre Sehnsucht zu ihrer ständigen Bedingung gemacht. Als Gefühl und als kulturelle Wahrnehmung umfaßt die Liebe in immer stärkerem Maß imaginäre Objekte der Sehnsucht, das heißt Objekte, die sich allein der Vorstellungskraft verdanken und auf diese beschränkt bleiben. Adorno geht jedoch auch davon aus, daß die Vorstellungskraft, als sie in den Kreislauf des Konsums eingespeist wurde, außerhalb der ästhetischen Sphäre eine Herabsetzung erfuhr: »Ihre Diffamierung, oder Abdrängung in ein arbeitsteiliges Spezialbereich, ist ein Urphänomen der Regression bürgerlichen Geistes […].« [2] Die romantische Liebe und die Phantasie wurden kulturell verdächtig, weil »nur verdinglicht: abstrakt der Realität gegenübergestellt, Phantasie überhaupt noch geduldet wird«. [3] 359 Gerade weil es schwierig bis unmöglich geworden ist, in der Erfahrung der Liebe Eingebildetes und Wirkliches auszueinanderzuhalten, wurde und wird die Einbildungskraft in der Liebe geschmäht. Diese Annahme, daß die romantische Erfahrung unter der Bürde kollektiver Phantasien leidet, ist es, die ich im vorliegenden Kapitel untersuchen möchte. Genauer gesagt möchte ich versuchen, das Verhältnis zwischen dem Gefühl der Liebe und ihrer Vorformulierung in massengefertigten Phantasien zu verstehen, einschließlich der Auswirkungen, die solche vorformulierten »Drehbücher« oder Skripte auf die Natur des romantischen Begehrens haben.
* Die Mottos stammen aus Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe [1977], übers. von H.-H. Henschen, Frankfurt/M. 6 1986, S. 149; sowie John Keats, »Ode on a Grecian Urn« [1820], zitiert nach Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik [1930], übers. von L. Rüdiger, München 1981, S. 41 u. 379: »Gehörte Melodien sind süß, doch süßer / sind die ungehörten«.
Einbildungskraft, Liebe
Was ist Einbildungskraft? Einer verbreiteten Auffassung zufolge handelt es sich dabei um eine normale geistige Aktivität. Jeffrey Alexander beschreibt sie als »dem Prozeß der Repräsentation selbst wesentlich. Sie greift einen unausgegorenen Eindruck aus dem Leben auf und verleiht ihm mittels Assoziation, Verdichtung und ästhetischer Kreativität eine spezifische Form.« [4] Die Einbildungskraft wird hier nicht als freie und ungebundene Aktivität des Geistes verstanden, sondern als genau der Stoff, aus dem wir Gedanken und Erfahrungen gestalten oder die Welt in unserer Vorstellung vorwegnehmen. Alexanders Definition betont, daß die Aktivität der Einbildungskraft weniger im Erfinden besteht als vielmehr darin, bereits bestehende kulturelle Szenarien und Konstrukte zu verarbeiten. Auch ist die Einbildungskraft
Weitere Kostenlose Bücher