Warum Liebe Weh Tut
Kulturtechniken und Romanen auf die Gestaltung der Einbildung, sei es der antizipierende, vorgreifende Charakter imaginärer Gefühle und vor allem das Problem, 365 wie man von einem eingebildeten Objekt zur gewöhnlichen Realität übergeht.
Moderne Institutionen der Vorstellungskraft erregen und unterstützen eine maßvolle Form des Tagträumens, vor allem durch die beispiellose Produktion der Bild- wie der Printmedien, die uns eindringliche Geschichten vom guten Leben vor Augen führen. Die Moderne hat in erheblichem Maß in der Fähigkeit bestanden, sich neue Formen der sozialen und politischen Verbundenheit vorstellen zu können. [11] Diese neuen imaginierten Bindungen betreffen nicht nur die politischen Verhältnisse, sondern, was vielleicht noch entscheidender ist, auch die Utopien des privaten Glücks. Die utopische Vorstellungskraft wird im privaten Bereich betätigt und setzt eine Definition des Subjekts als privates voraus, das mit privaten Gedanken, Gefühlen und Sehnsüchten ausgestattet ist. Vor allem aber macht sie den privaten Bereich des häuslichen Lebens zum Gegenstand und Schauplatz des Vorstellungsvermögens. Liebe und emotionale Erfüllung werden zum Gegenstand utopischer Phantasie. Die Vorstellungskraft geht Hand in Hand mit der Demokratisierung und Verallgemeinerung des Glücksideals, wenn wir darunter einen materiellen und emotionalen Zustand verstehen. Die Konsumkultur – die sich mit Nachdruck für ein emotionales Projekt der persönlichen Erfüllung ausspricht – organisiert das private moderne Gefühlssubjekt um seine Emotionen und Tagträume und lokalisiert den Gebrauch der eigenen Freiheit in einer Individualität, die es zu erlangen und zu phantasieren gilt. Sie legitimiert die Kategorien des Begehrens und der Phantasie, macht sie zur legitimen Grundlage des Handelns und Wollens und verwandelt Konsum und Waren in eine institutionelle Hilfestellung, um solche Begierden zu befriedigen oder auch einfach nur zu erfahren. Ein »Lebensprojekt« ist die institutionalisierte 366 Projektion des eigenen individuellen Lebens in die Zukunft unter Einsatz der Vorstellungskraft. Die Moderne institutionalisiert die Erwartung und das Vermögen des Subjekts, sich seine Lebenschancen mit Hilfe der kulturellen Praxis der Vorstellungskraft auszumalen. Gefühle werden in dem Sinne zu Gegenständen der Vorstellungskraft, daß ein Lebensprojekt nicht nur eine vorgestellte kulturelle Praxis ist, sondern mitunter auch ausgefeilte emotionale Projekte umfassen kann. So verwandelt die Vorstellungskraft die Sehnsüchte des Subjekts und seine projektive Vorwegnahme eines ewigen Zustands von Liebe und Enttäuschung in eine unmittelbare Bedrohung der Fähigkeit, zu begehren.
Es ist genau diese Funktion von Kultur und Technik, eine aus sich selbst heraus geschaffene romantische Einbildung zu nähren, die westeuropäische Moralisten und Philosophen seit dem 17. Jahrhundert beschäftigt. In Westeuropa spitzte sich das intrikate Verhältnis von Liebe und Einbildungskraft mit der Verbreitung des gedruckten Buchs, der Kodifizierung von Genre und Formel der romantischen Liebesgeschichte sowie dem Entstehen der Privatsphäre besonders zu. Das Gefühl der Liebe wurde zunehmend mit Technologien durchsetzt, die die Aktivität des Vorstellungsvermögens freisetzten und zugleich kodifizierten, indem sie sie in eindeutige narrative Formeln gossen. [12]
Das Potential des Romans, Identifikationsprozesse und Einbildungskraft in Gang zu setzen – und seine Beschäftigung mit Themen wie Liebe, Ehe und soziale Mobilität – machte die romantische Einbildungskraft zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses. Zunehmend schrieb man der Imagina 367 tion sozial wie emotional destabilisierende Effekte zu. Der rasch wachsenden weiblichen Leserschaft wurde während des gesamten 18. Jahrhunderts die moralische Gefährlichkeit von Romanen vor Augen geführt. In zahlreichen Anprangerungen sprach sich die kaum verhohlene Befürchtung aus, die Romanlektüre könnte sich geradezu auf die Natur der emotionalen und sozialen Erwartungen der Frauen auswirken. [13] Die Verweiblichung dieses Genres, die mit seiner überwiegend weiblichen Leserschaft und dem Auftreten von Romanautorinnen einherging, verschärfte die Sorge, daß Romane irreale und bedenkliche Empfindungen anregten. [14]
Weil die Romanproduktion des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend die Auswirkungen des eigenen literarischen Genres reflektierte, kritisierten
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