Warum Liebe Weh Tut
verliebte, den sie drei Jahre vor dem Interview im Internet kennenlernte.
ORIT : Wir korrespondierten lange Zeit und bei mir entwickelte sich das Gefühl, daß ich ihn sehr gut kenne.
INTERVIEWERIN : Haben Sie sich real getroffen?
ORIT : Nein. Einmal, ich glaube vor zwei Jahren, entschieden wir uns zu einem Treffen, aber er sagte in letzter Minute ab.
INTERVIEWERIN : Und seitdem haben Sie ihn nicht getroffen?
ORIT : Nein. Ich weiß wirklich nicht, warum er abgesagt hat. Ich glaube, er bekam kalte Füße oder so.
INTERVIEWERIN : Hat das Ihre Gefühle ihm gegenüber beeinflußt?
ORIT : Überhaupt nicht. Ich liebte ihn genauso wie vorher. Seit all diesen Jahren habe ich das Gefühl, daß ich nur ihn liebe. Ich fühle mich ihm sehr nah, auch wenn wir nicht mehr korrespondieren. Ich habe das Gefühl, ihn sehr gut zu kennen und zu verstehen.
INTERVIEWERIN : Sie fühlen sich ihm nah.
ORIT : Ja. Das tue ich.
INTERVIEWERIN : Aber wie, wenn Sie sich nie begegnet sind?
ORIT : Zunächst einmal hat er mir sehr viel über sich erzählt. Wir haben eine Menge E-Mails hin und her geschickt. Schauen Sie, mit all diesen neuen Technologien kann man eine Menge über jemanden erfahren. Auf Facebook kann ich seine Freunde sehen, sehen, was er gemacht hat, wo er im Urlaub war, seine Bilder; oft geht es mir fast so, als sei er mit mir im selben Zimmer, ich kann sehen, wenn er in Google Mail ist, wenn er sich anmeldet, wenn er auf Skype aktiv ist; ich kann sehen, welche Musik er sich herunterlädt und was er hört. Es ist so, 421 als wäre er bei mir, in meinem Zimmer, die ganze Zeit. Ich kann sehen, was er tut, was er sich anhört, auf welche Konzerte er gegangen ist, also fühle ich mich ihm wirklich nah.
Es ist nicht recht deutlich, inwieweit Orit mit einem realen oder einem imaginären Charakter interagiert. Ihre Gefühle haben meines Erachtens einen epistemologisch intermediären Charakter: Insofern sie diesen Mann noch nie gesehen hat und ihre Gefühle weitestgehend selbsterzeugt sind – also nicht durch eine tatsächliche Interaktion, ja nicht einmal durch eine virtuelle hervorgerufen werden –, sind sie fiktional. Insofern sie jedoch mit realen technologischen Apparaten interagiert (Google Mail, Bildern auf Facebook und so weiter), können wir sagen, daß es sich um eine Art interaktioneller fiktionaler Emotion handelt. Diese ist in technologischen Objekten verankert, die eine virtuelle Person objektivieren und gegenwärtig machen. Wir können sagen, daß die Technologie hier die Funktion hat, fiktionale Gefühle auszulösen, indem sie eine »Abwesenheit anwesend werden läßt«. Das Internet scheint Beziehungen gerade dadurch aufrechterhalten zu können, daß es eine phantomhafte Anwesenheit hervorbringt. So wie ein Phantomschmerz in der neurologischen Präsenz eines amputierten Glieds besteht, so erzeugt das Internet Phantomempfindungen. Sie werden als Empfindungen erlebt, die in Stimuli des wirklichen Lebens gründen, doch ihr eigentliches Objekt ist abwesend oder inexistent. Ermöglicht wird dies durch technologische Apparate, die Anwesenheit simulieren. Lösten der Roman und der Film Empfindungen durch starke Identifikationsmechanismen aus, so ruft die neue Technologie Empfindungen hervor, indem sie Entfernungen abschafft, Anwesenheit imitiert und Gefühlen objektive Anhaltspunkte bietet. Mehr als jede andere Kulturtechnik ermöglicht es das Internet der Vorstellungskraft, auf einer sehr dünnen sinnlichen Grundlage Gefühle hervorzubringen, die selbstzweckhaft werden und sich selbst speisen und erhalten. Wenn die Vorstellungs 422 kraft darin besteht, sich etwas Abwesendes zu vergegenwärtigen, dann eröffnet das Internet eine radikal neue Weise, das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit handzuhaben. Tatsächlich ist eine der zentralen Dimensionen, hinsichtlich der man die Einbildungskraft als historisch variabel bezeichnen kann, die der Unterschiede und Innovationen in der Handhabung von Anwesenheit und Abwesenheit sowie der Selbstaufrechterhaltung der Einbildungen. Eine selbstzweckhafte Einbildungskraft wird durch fiktionales Material und technologische Artefakte strukturiert, und sie wird undurchlässig gegenüber Interaktionen im wirklichen Leben.
Schluß
Das vorliegende Kapitel dokumentiert verschiedene Prozesse: die zunehmende Mobilisierung und Kodifizierung des Tagträumens als einer gewöhnlichen kognitiven und emotionalen Aktivität in der Liebe; den Zusammenhang zwischen der
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