Warum Liebe Weh Tut
Sprache beeinträchtigt die Prozesse des visuellen und körperlichen Einschätzens und Wiedererkennens. »Verbale Überschattung« beschreibt die Störung des visuellen Wiedererkennens durch verbale Beurteilungen: Experimentell konnte nachgewiesen werden, daß Personen, die Gesichter, welche man ihnen gezeigt hatte, verbal beschrieben, schlechter darin abschnitten, diese Gesichter wiederzu 416 erkennen, als andere, die dieselben Gesichter identifizieren sollten, ohne sie vorher verbal beschrieben zu haben. [59] Dies ist ein Hinweis darauf, daß eine textgestützte, sprachliche und merkmalsbasierte Kenntnis des anderen die Fähigkeit beeinträchtigen kann, die Mechanismen des visuellen Erkennens von Attraktivität in Gang zu setzen.
Wir können somit sagen, daß eine Verlagerung im Herzen des romantischen Begehrens stattgefunden hat. Wie mir scheint, wird das romantische Begehren immer weniger durch das Unbewußte bestimmt. Das Ich mit seiner scheinbar unerschöpflichen Fähigkeit, Kriterien für die Partnerwahl zu formulieren und zu verfeinern, ist eine hochbewußte Größe, und es wird unentwegt auf Wahlentscheidungen und vernünftigerweise wünschenswerte Kriterien an einem anderen aufmerksam und für diese verantwortlich gemacht. Das Begehren wird durch die Wahl als einer zweifachen – sowohl rationalen als auch emotionalen – Form des Handelns strukturiert. Man könnte darüber hinaus vermuten, daß die Idealisierung – als ein für die Erfahrung der Liebe zentraler Prozeß – zunehmend schwerer fällt, weil die Ontologisierung des Selbst die Prüfung der Persönlichkeit anderer sowie ihre Zerlegung in separate Merkmale vorantreibt, was ihre ganzheitliche Einschätzung verhindert. Auch das überwältigende Gefühl der Einzigartigkeit, das einst bezeichnend für das Gefühl der Liebe war, ist in der schieren Masse potentieller Partner untergegangen.
Begehren als Selbstzweck
Ich möchte daher behaupten, daß es immer schwieriger wird, eine Verbindung zwischen dem Begehren, der Einbil 417 dungskraft und dem Realen herzustellen, und dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Der eine ist, daß die Einbildungskraft zunehmend stilisiert wurde und sich mittlerweile auf Genres und Technologien stützt, die fiktionale Gefühle auslösen und sowohl zur Identifikation einladen als auch zur Vorwegnahme erzählerischer Formeln und visueller Szenerien ermutigen. Der zweite Grund hat mit dem Umstand zu tun, daß das Alltagsleben auf kulturelle und kognitive Kategorien zurückgreift, die es erschweren, romantischen Erlebnissen und Beziehungen eine ganzheitliche Form zu verleihen. Im Ergebnis sind Phantasie und Einbildungskraft immer unabhängiger von ihren Objekten geworden. Doch möchte ich darüber hinaus die These aufstellen, daß Phantasie und Einbildungskraft nicht nur selbsterzeugt, sondern auch selbstzweckhaft geworden sind. Sie haben sich in ihre eigenen (lustvollen) Ziele verwandelt. Einige Beispiele mögen dies illustrieren. Ein 50jähriger geschiedener Mann namens Robert berichtet in einem Interview:
INTERVIEWERIN : Sie sagten vorhin, daß Sie mit zunehmendem Alter immer phantasiesüchtiger werden. Was meinen Sie damit? Was verstehen Sie unter Phantasie? Meinen Sie eine Liebe, die unerfüllt bleiben muß?
ROBERT : Ja, und ich glaube, je älter ich werde, desto mehr liegt mir an diesen unerfüllten Lieben.
INTERVIEWERIN : Das ist sehr interessant. Können Sie sagen, warum?
ROBERT : Es bereitet mir enormes Vergnügen.
INTERVIEWERIN : Können Sie erklären, warum das so ist?
ROBERT : Es löst das existentielle Problem der Symbiose zwischen dem Emotionalen und dem Intellektuellen. Wenn es nicht sexuell, aber psychologisch vollzogen wird, bereitet es Befriedigung. Was so befriedigend daran ist, ist gerade die Tatsache, daß es nicht befriedigt wird, daß die Liebe unverwirklicht bleibt. Die Tatsache, daß das Versprechen unerfüllt blieb, macht jede kleine Geste, jedes Lächeln, jedes Winken mit der Hand bedeutungsvoll – eine SMS am Morgen, in der nur »Guten Morgen« steht, wird mit sehr viel Bedeutung aufgeladen.
[…]
418 INTERVIEWERIN : Waren Sie in Frauen verliebt, die unerreichbar waren?
ROBERT : Ja, absolut.
INTERVIEWERIN : Reizt Sie das besonders?
ROBERT : Schwer zu sagen, denn wenn man sich verliebt, scheint es immer die größte Liebe zu sein. Aber ja, unter dem Strich würde ich sagen, ja. Weil ich mehr über sie phantasieren kann.
Begehren und Phantasieren fließen
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