Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
und auch nach der Tat verhält er sich sehr kalkulierend, bei der Suche ebenso wie bei der Vernehmung. Es sind kaum Stresssymptome wahrzunehmen, obwohl er gerade einen Menschen getötet hat. Man kann sich das vielleicht vorstellen wie bei einem Skifahrer, der in einem mentalen Training den Slalomlauf so lange im Kopf durchfahren ist, bis er ihn im Schlaf beherrscht.
Auch in der Vernehmung lügt er zwar auf naive Art, aber mit System. Er verfährt nach einem klaren Muster: Gefährliche Details spart er nicht aus, in der Hoffnung, dass die Rede nicht darauf kommt. Er spricht sie offensiv von selbst an, er nimmt das Ertapptwerden vorweg und lenkt gezielt mit Lügen in eine falsche Richtung. Schuldgefühle scheinen ihn nicht so sehr zu plagen, dass er schamvoll versucht, bestimmte Themen zu vermeiden. Im Gegenteil: Er versucht die Kontrolle über das Wissen der Beamten zu erlangen, indem er sie auf falsche Fährten führen will. Schon bei der ersten Lüge vom blauen Halstuch verfährt er so. Auch später beim Kabel, bei der Fesselung, und als er behauptet, es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er die Handschellen nicht mehr öffnen könne. Ja, höchstwahrscheinlich auch, als er behauptet, das gefesselte Kind zu sehen, hätte ihn nicht erregt. Das zeigt auch, dass er sich wohl vollkommen bewusst ist, welche Aspekte seines Tuns dieses Verbrechen noch verwerflicher machen, als es ohnehin schon ist.
Zugleich haben sich wahrscheinlich seine Phantasien mit der Realität sehr vermischt. Dass er den Beamten allen Ernstes weismachen will, Denise und Jessica hätten ihn immer wieder zum Sex aufgefordert, ist zwar eine Lüge nach seinem typischen Muster. Aber die Phantasien in Bezug auf die Kinder dürften sich sehr verfestigt haben. Er nimmt womöglich an, auch andere werden ihm glauben, dass es so geschehen sein könnte.
Und seine »Tötungsbereitschaft«? Offenbar stark ausgeprägt. Er erdrosselt sein Opfer eigenhändig. Und sehr wahrscheinlich hat er das von Anfang an eingeplant, schließlich verwendet er Handschellen, die er nicht mehr öffnen kann. Und selbst wenn das Mädchen nach dem Würgen noch gelebt hätte, wäre sie durch die Art der Fesselung früher oder später gestorben.
Ich schließe die Akten und tippe noch einen letzten Satz in meinen Bericht: »Demzufolge erscheint bei ausschließlicher Betrachtung des Tatverhaltens die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass sich solch ein strafrechtlich relevantes Verhalten wiederholen kann und damit das Rückfallrisiko bezogen auf ein ähnliches Delikt gegeben ist.«
Drei Monate später wird Nils Wagner von einem Jugendgericht wegen Vergewaltigung und Mordes zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt. Der psychiatrische Gutachter diagnostiziert eine Persönlichkeitsstörung. Der Junge wird darum seine Strafe in einer psychiatrischen Einrichtung verbringen und darf erst wieder freigelassen werden, wenn als sicher gilt, dass er keine Gefahr mehr darstellt.
Seine Tat hat bei der Familie von Denise eine Wunde hinterlassen, die nie ganz verheilen wird.
Nachdem der Großvater im Präsidium zusammengebrochen ist, stabilisiert der Notarzt ihn. Zum Glück ist es kein Herzinfarkt. Denises Mutter kann zwei Tage darauf ihre Tochter zum letzten Mal sehen. Die Mitarbeiter in der Gerichtsmedizin haben dem Mädchen sein Lieblingskleid angezogen, ihm die Lieblingsmütze aufgesetzt und seine Kuscheltiere um es geschart. Einzig die Haare des Kindes liegen ungewohnt. Die Mutter geht zu ihrer Tochter, streichelt ihr über die Wange und streicht dann den Pony zurecht, so wie Denise ihn immer trug.
Die Mutter ist eine sehr tapfere Frau. Sie kümmert sich selbst um die Beerdigung ihres Kindes. Die Bestattung soll fröhlich sein, so wie es das Kind war. Denise wird in einem buntbemalten Sarg beigesetzt, wir alle von der Polizei sind anwesend. Einige Jahre später bekommt die Mutter ein zweites Kind. Es ist ein Sohn.
Ebert
Ein Loch klafft im Dach der Turnhalle. Vom First hängt ein Nylonseil herunter, es führt über den Zaun des Geländes nach draußen. Der Pfleger, der das Loch in der Nacht des 4. Oktober 1994 entdeckt, schlägt sofort Alarm. Alle Patienten des Hauses 18 im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll werden eingeschlossen. Fehlt einer? Durchzählen! Ja, einer fehlt. Die Pfleger rufen sofort die Polizei.
Auch die Presse trifft schnell ein. Einige Reporter hören heimlich den Polizeifunk ab, mancher hat auch Kontakte in die Klinik. Darum hat sich die brisante Nachricht rasend schnell
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