Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
fürchtete, dass sie zur Entstehung von Fabriken in den Städten führen würde, besonders in Wien, wo sich die dort dann konzentrierten Arbeiter den Gegnern des Absolutismus anschließen konnten. Seine Maßnahmen zielten darauf ab, die traditionellen Eliten sowie den politischen und wirtschaftlichen Status quo unverändert zu lassen, und zwar dadurch, dass die Gesellschaft ihren Agrarcharakter behielt und man überhaupt gar nicht erst anfing, Fabriken zu bauen. Deshalb verbot er 1802 die Errichtung von Fabrikgebäuden in Wien und untersagte bis 1811 die Einfuhr und den Bau neuer Maschinen, die Grundlage der Industrialisierung.
Zweitens widersetzte er sich dem Eisenbahnbau, einer der entscheidenden neuen Technologien, welche die Industrielle Revolution begleiteten. Als man ihm einen Plan für eine nördliche Eisenbahnlinie vorlegte, erklärte Franz, er wolle nichts damit zu tun haben, weil sonst eine Revolution ausbrechen könne. Da er keine Genehmigung für den Bau einer Dampfeisenbahn erteilte, musste man für den ersten Zug des Reiches Pferdekutschen benutzen. Die Linie zwischen Linz an der Donau und der böhmischen Stadt Budweis an der Moldau wies große Steigungen und enge Kurven auf, so dass es später unmöglich war, sie auf Dampfloks umzustellen. Deshalb wurde sie bis in die 1860er Jahre hinein mit Pferdekraft betrieben.
Salomon Rothschild, der die große Bankdynastie in Wien repräsentierte, erahnte bereits früh das wirtschaftliche Potential der Eisenbahn. Sein Bruder Nathan, der seinen Wohnsitz nach England verlegt hatte, war sehr beeindruckt von George Stephensons Lokomotive »The Rocket« und den Möglichkeiten der Dampfeisenbahn. Er ermutigte seinen Bruder, in Österreich nach günstigen Investitionen in den Eisenbahnbau Ausschau zu halten, denn er war überzeugt, dass die Familie dadurch hohe Gewinne machen könne. Salomon stimmte ihm zu, doch aus dem Plan wurde nichts, weil Kaiser Franz wieder schlicht Nein sagte.
Der Widerstand gegen Industrie und Dampfeisenbahnen rührte von Franz’ Angst vor der schöpferischen Zerstörung her, die in einer modernen Wirtschaft unvermeidlich war. Er wollte vor allem die Stabilität der extraktiven Institutionen des Reiches sicherstellen und die Privilegien der ihn unterstützenden traditionellen Eliten schützen. Denn er hatte wenig durch die Industrialisierung zu gewinnen, die ländliche Arbeitskräfte anziehen und das Feudalsystem schwächen würde. Zudem wusste Franz, welche Gefahr bedeutende wirtschaftliche Veränderungen für seine politische Macht darstellten. Darum blockierte er die Industrie und den wirtschaftlichen Fortschritt, und diese Rückständigkeit kam auf vielerlei Art zum Ausdruck: Zum Beispiel verwendete man 1883, als bereits 90 Prozent der Welteisenmenge unter Einsatz von Kohle hergestellt wurden, in den Habsburger Territorien für die Hälfte der Produktion immer noch die viel weniger effiziente Holzkohle. Und bis zum Ende des Reiches im Ersten Weltkrieg wurde die Weberei nie völlig mechanisiert, sondern immer noch manuell betrieben.
Österreich-Ungarn war nicht der einzige Staat, in dem man sich vor der Industrialisierung fürchtete. Weiter östlich hatte auch Russland absolutistische politische Institutionen und äußerst extraktive Wirtschaftsinstitutionen. Da sie auf Leibeigenschaft beruhten, war mindestens die Hälfte der Bevölkerung an die Scholle gebunden. Leibeigene mussten drei Tage pro Woche unentgeltlich auf den Gütern ihrer Besitzer arbeiten, sie durften nicht umziehen oder ihre Tätigkeit frei wählen und konnten außerdem jederzeit an einen anderen Grundeigentümer verkauft werden. Der radikale Philosoph Pjotr Kropotkin, einer der Begründer des modernen Anarchismus, verfasste eine anschauliche Beschreibung der Leibeigenschaft unter Zar Nikolaus I., der Russland von 1825 bis 1855 beherrschte. Kropotkin erinnerte sich an
Geschichten von Männern und Frauen, die man von ihren Familien und aus ihren Heimatdörfern fortriss und verkaufte oder beim Spiel verlor oder gegen ein paar Jagdhunde umtauschte und dann irgendwohin in einen weit entfernten Teil Russlands wegführte, um dort neue Güter anzulegen; von Kindern, die man ihren Eltern wegnahm und an grausame oder sittenlose Herren verkaufte; von Auspeitschungen (im Stall), die jeden Tag mit unerhörter Grausamkeit vor sich gingen; von einem Mädchen, das sich nicht anders retten konnte, als dass sie den Tod im Wasser suchte; von einem alten Manne, der im Dienste seines
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