Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut (German Edition)
Reform oder Revolution – ab, statt ihre Macht ohne jegliche Reform aufrechtzuerhalten? Hätten sie nicht einfach dem Beispiel der spanischen Konquistadoren in Südamerika folgen oder das Gleiche tun können wie die österreichisch-ungarischen und russischen Monarchen in den nächsten Jahrzehnten, als die Reformforderungen jene Länder erreichten, oder auch das, was die Briten selbst in der Karibik und in Indien unternommen hatten, nämlich die Forderungen mit Gewalt niederzuschlagen?
Die Antwort liefert der Tugendkreis. Die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die in Großbritannien bereits stattgefunden hatten, ließen der Elite den Einsatz von Gewalt sowohl wenig attraktiv als auch zunehmend unpraktisch erscheinen. Dazu E. P. Thompson:
Als die Kämpfe von 1790–1832 anzeigten, dass sich das Gleichgewicht verschoben hatte, standen die Herrschenden Englands vor beunruhigenden Alternativen. Sie konnten entweder die Rechtsstaatlichkeit aufgeben, ihre komplizierten Verfassungsstrukturen abbauen, ihren eigenen Aussagen zuwiderhandeln und durch Gewalt herrschen; oder sie konnten ihren eigenen Regeln gehorchen und auf ihre Hegemonie verzichten. Sie unternahmen zögerliche Schritte in die erste Richtung, doch statt ihr eigenes Selbstverständnis zunichtezumachen und 150 Jahre konstitutioneller Legalität abzulehnen, unterwarfen sie sich am Ende dem Gesetz.
Anders ausgedrückt: Die gleichen Kräfte, welche die britische Elite daran hinderten, das Gebäude der Rechtsstaatlichkeit durch den Black Act niederzureißen, ließen sie vor Repression und Gewaltherrschaft zurückschrecken, weil auch dadurch die Stabilität des gesamten Systems aufs Spiel gesetzt worden wäre. Während die Aushöhlung des Rechts durch Vollstreckung des Black Act das System geschwächt hätte, das von Händlern, Geschäftsleuten und dem Kleinadel in der Glorreichen Revolution aufgebaut worden war, hätte die Einrichtung einer repressiven Diktatur im Jahr 1832 dieses System vollends untergraben. Tatsächlich waren sich die Organisatoren der Demonstrationen für Parlamentsreformen der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und ihrer Symbolik für die britischen politischen Institutionen jener Zeit durchaus bewusst. Eine der ersten Organisationen, die sich um Parlamentsreformen bemühte, war der Hampden Club, benannt nach dem Abgeordneten, der Karl I. als Erster wegen der Schiffssteuer Widerstand geleistet hatte – ein entscheidendes Ereignis, das, wie beschrieben, zu dem ersten großen Aufstand gegen den Stuart-Absolutismus geführt hatte.
Hinzu kam das dynamische, positive Feedback zwischen den inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Die inklusiven Wirtschaftsinstitutionen führten zur Entwicklung inklusiver Märkte, die eine effizientere Verteilung der Ressourcen mit sich brachten, stärkere Anreize zum Erwerb von Qualifikationen und Fertigkeiten schufen sowie weitere technische Innovationen auslösten. All diese Kräfte waren damals in Großbritannien wirksam. Die Forderungen der Öffentlichkeit abzuweisen und einen Putsch gegen die inklusiven politischen Institutionen durchzuführen hätte auch bedeutet, sämtliche Fortschritte zunichtezumachen. Außerdem wären die herrschenden Eliten, die eine größere Demokratisierung und Inklusivität ablehnten, durch solche Maßnahmen möglicherweise um ihr Vermögen gebracht worden.
Ein anderer Aspekt dieses positiven Feedbacks bestand darin, dass die Macht unter inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen weniger zentral ausgeübt wurde. In Österreich-Ungarn und in Russland hatten die Monarchen und die Aristokratie durch Industrialisierung und Reformen viel zu verlieren. In Großbritannien dagegen stand am Anfang des 19. Jahrhunderts infolge der Entwicklung inklusiver Wirtschaftsinstitutionen weit weniger auf dem Spiel: Es gab keine Leibeigenen, relativ wenig Zwang auf dem Arbeitsmarkt und nur eine kleine Anzahl von durch Eintrittsschranken geschützten Monopolen. Deshalb war es für die britische Elite viel weniger profitabel, sich an die Macht zu klammern.
Die Logik des Tugendkreises ließ solche repressiven Schritte zunehmend undurchführbar werden – wiederum wegen des positiven Feedbacks zwischen inklusiven wirtschaftlichen und politischen Institutionen. Inklusive Wirtschaftsinstitutionen bewirken, im Gegensatz zu extraktiven Einrichtungen, eine fairere Verteilung der Ressourcen. Dadurch stärken sie sämtliche Bürger und sorgen auch im Kampf um
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