Warum tötest du, Zaid?
wenn es denn überhaupt welche gegeben hat. Schluchzend gehen sie nach Hause. Zaids Eltern, seine zwei Schwestern Lamya und Maysun sowie Zaid und Karim halten sich fest umschlungen.
Zaid hat aufgehört zu erzählen. Ich spüre, dass er eine Pause braucht. Er hat seine Augen mit beiden Händen bedeckt, um seine Tränen zu verbergen. Sein ganzer Körper wird von Krämpfen geschüttelt. Ich stehe auf und lasse ihn einige Minuten allein. Als ich sehe, dass er seine Fassung wiedergefunden hat, setze ich mich wieder zu ihm. Mit müdem Gesicht fährt er fort.
Obwohl die Trauer um Haroun ihn und seinen achtzehnjährigen Bruder Karim in den kommenden Wochen unendlich bedrückt, beschließen die beiden, sich auf ihr Studium zu konzentrieren. Karim hat gerade Abitur gemacht und will Agrarwissenschaften studieren.
In diesen Wochen wachsen Zaid und Karim noch enger zusammen. Zaid nimmt ihn zum Fußball mit und sorgt dafür, dass sie möglichst immer in derselben Mannschaft spielen. Manchmal verzichtet er sogar auf seinen Lieblingssport und geht mit Karim im Euphrat schwimmen. Karim ist begeisterter Schwimmer.
Als im Herbst das Studium wieder beginnt, richtet es Zaid immer so ein, dass beide ihre Bücher und Schriften nachmittags gemeinsam durcharbeiten können. Wenn Karim mit leeren Augen in die Ferne starrt, weiß Zaid, dass er an Haroun denkt. Zaid erzählt ihm dann irgendeine lustige Geschichte.
So vergehen die Wochen und Monate. Anfang 2007 kommt es in Ramadi wieder zu schweren Kämpfen. Das Haus von Zaids Vater bleibt glücklicherweise verschont. Am Abend des 5. Januar jedoch schlägt eine von einem
amerikanischen Hubschrauber abgefeuerte Rakete direkt neben ihrem Haus ein. Sie zerstört den Generator, der ihr Haus und einige Nachbargebäude mit Strom versorgt.
In Panik springt die Familie auf. Geduckt rennen alle, so schnell es geht, aus der Kampfzone zum Haus eines Onkels, der nur wenige hundert Meter entfernt in einer Querstraße wohnt. Als sie atemlos dort ankommen, fällt ihnen ein, dass sie vergessen haben, die mit Kerosin betriebenen Heizöfen abzustellen. Karim beschließt, noch einmal zurückzulaufen. Er öffnet die Tür und schaut vorsichtig nach links und rechts, um zu sehen, ob die Luft rein ist.
Dann läuft er los. Zaid ruft ihm noch zu, er solle gut auf sich aufpassen, da peitschen schon Maschinengewehrsalven durch die kleine Straße. Nicht einmal dreißig Meter vor dem Haus seines Onkels bricht Karim, von amerikanischen Kugeln durchsiebt, zusammen.
Zaid will sofort rausrennen, um Karim zu bergen, aber seine Schwestern halten ihn schreiend fest. Zaid hasst Gewalt, selbst in der Schule ist er jeder Schlägerei aus dem Weg gegangen. Im Fußball spielt er nie foul. Aber jetzt gehen ihm alle Sicherungen durch.
Vor Schmerz und Wut schreiend will er nach draußen und seinen mitten auf der Straße in einer großen Blutlache liegenden kleinen Bruder reinholen. Und er will auf die Amerikaner los. Wenigstens einen von ihnen will er mit bloßen Händen erwürgen, obwohl immer wieder Maschinengewehrsalven durch die Straße peitschen.
Auch sein Vater wirft sich Zaid entgegen, seine Mutter verkrallt sich in sein T-Shirt. Verzweifelt weinend und schreiend, hält jeder jeden in der Familie fest. Zaid hämmert mit den Fäusten gegen die Wand und schluchzt: »Ich muss meinen Bruder holen, vielleicht lebt er noch. Ich muss ihn holen.« Aber seine Eltern und seine Schwestern
haben panische Angst, auch Zaid zu verlieren, und lassen ihn nicht los.
Die ganze Nacht starrt die Familie durch das kleine Küchenfenster nach draußen. Nur einige Meter von ihnen entfernt liegt Karim in seiner dunklen Blutlache. Immer wieder wird in der Straße geschossen. Mehrere Schüsse treffen die Tür des Hauses. Es gibt keine Chance, Karim zu bergen.
Gegen neun Uhr früh kommt endlich der Feuerwehrwagen. In seinem Schutz stürzt die Familie nach draußen, aber es ist längst zu spät. Karim ist tot. Zaid nimmt den leblosen Körper seines kleinen Bruders vorsichtig auf seine Arme und trägt ihn in das Feuerwehrauto. Dort legt er ihn liebevoll auf eine Bahre. Dann setzt er sich neben Karims Leichnam, legt seinen Kopf auf dessen Brust und beginnt zu weinen.
Ich sehe, dass sich Zaids Augen auch jetzt wieder mit Tränen gefüllt haben, und lege ihm meine Hand auf die Schulter. Er schaut an mir vorbei, während ihm die Tränen über die Wangen laufen. Ich will gerade aufstehen, aber Zaid hält mich fest. Er atmet ein paarmal tief durch und
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