Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Sonne lugte hinter dem Berg hervor, breitete ihr funkelndes Licht über den Felsen und auf der spiegelglatten grünen Oberfläche des Sees aus. Rehe ästen in den Schatten am gegenüberliegenden Ufer, von Thunder unbemerkt. May ging langsam, um sie nicht aufzuscheuchen. Kaninchen flüchteten ins Gebüsch und sie dachte an das verschwundene Stickbild, fragte sich, was für Tiere Agnes als Motiv gewählt haben mochte.
May setzte sich in den Pavillon. Der alte Hund stand am Ufer, als zöge er in Betracht, schwimmen zu gehen. Martin hatte befürchtet, dass sie sich gegen den Hund sträuben würde: Er hatte Blasenprobleme, Mundgeruch, Schuppen, kaum noch Zähne und brauchte Schonkost.
Aber für sie zählte nur Kylies Liebe zu ihrem neuen Spielgefährten und Martins großzügige Geste, die sie über alle Maßen berührt hatte. Er hatte ihr von Natalie und Archie erzählt, von der Chance, die er vertan hatte, als er seiner Tochter verboten hatte, den Hund zu behalten. Thunder war ein gutmütiges altes Tier, das Martin vor dem Einschläfern gerettet hatte, aber noch schöner war, dass ihr Mann und ihre Tochter Verbündete geworden waren.
»Na komm«, rief May leise. »Thunder … komm her.«
Thunder blickte über seine Schulter, die treuherzigen Augen blutunterlaufen. Er war im Schlamm stecken geblieben. Seine Pfoten waren im Morast eingesunken, er stand nun schon knietief darin und sah die Mutter seines Frauchens hilflos an.
»Du schaffst das, Thunder«, spornte May ihn an und stellte ihre Kaffeetasse auf der Bank im Pavillon ab.
Der Hund winselte, dann schluckte er Seewasser. Er schüttelte verzweifelt seine langen Ohren und Leftzen, durchnässte May, die in drei Metern Entfernung stand. Sie zog ihre Laufschuhe aus und überlegte, wie schwierig es sein mochte, einen dreißig Kilo schweren Basset, der in dem Ruf stand, bissig zu sein, aus dem Morast zu ziehen. Als sie sich suchend umsah, fiel ihr Blick auf den Rosengarten.
Die Sonne, halb verdeckt von den Fichten auf den Bergen, schien auf die Rosenbüsche. Tausende neuer Knospen in Scharlachrot, Karmesinrot, Zinnoberrot, Pink, Pfirsich und Perlweiß strebten dem Licht zu. Sie glichen winzigen Flammen, die himmelwärts züngelten, bereit, jeden Augenblick aufzuplatzen und voll zu erblühen. Martin hatte gleich nach seiner Rückkehr damit begonnen, sie einzupflanzen, und war erst nach Einbruch der Dunkelheit fertig geworden.
Es roch nach Erde, Kaffee, nassem Hund. May war überglücklich. Tau lag auf den Zweigen und Gräsern. Sie krempelte die Hosenbeine ihrer Jeans hoch, doch dann zog sie sie ganz aus. Sie schälte sich aus Sweatshirt und Bluse, stand in ihrer Unterwäsche auf den Stufen des Pavillons, in dem Martin und sie geheiratet hatten.
Als sie zum See hinunterging, spürte sie den kühlen Schlamm zwischen ihren Zehen. Thunder wedelte mit dem Schwanz, als sie näher kam. Sie schlang ihre Arme um seinen Körper, der wie ein Torpedo gebaut war, und zog ihn aus dem Morast. May wollte sich gerade umdrehen, um ihn ins Gras zu setzen, als er zu winseln begann und die Nase zum Wasser drehte.
»Willst du schwimmen?«
Statt einer Antwort machte Thunder Paddelbewegungen mit den Vorderpfoten. May ließ ihn in den See herab, und er glitt mit der Geschmeidigkeit eines Seeotters, Segelbootes oder jungen Welpen davon. May folgte ihm.
Sie schwamm vom Ufer weg, direkt zu der Stelle, an der das Sonnenlicht wie Diamanten funkelte. Das Wasser des Bergsees war seidenweich und kalt, ungetrübt wie der junge Tag. Thunder paddelte hin und her, hielt sich dicht am Ufer. Als May sich umdrehte, um das Haus, die Scheune und den Rosengarten zu betrachten, sah sie ihren Mann den Weg hinunterkommen.
Sie winkte, aber er winkte nicht zurück. Als er an ihrem Bündel Kleider vorbeikam, hob er es auf und drückte es an seine Brust. Sie sah, wie er den Kopf drehte und nach allen Seiten Ausschau nach ihr hielt, als versuchte er herauszufinden, wohin sie gegangen sein mochte. Als er Martins ansichtig wurde, watschelte Thunder in das seichte Wasser und Martin hob ihn heraus. Seine Schultern wirkten angespannt und er suchte fortwährend den See mit seinen Blicken ab.
»May!«
»Hier bin ich!«
Er nickte und sie sah, dass er sich entspannte. Er war barfuß, und nun zog er seine Shorts aus und das T-Shirt über den Kopf. Er legte alle Kleidungsstücke fein säuberlich auf die Stufen des Pavillons. In seinen engen Shorts glich er einer Marmorstatue. Die Sonne schimmerte auf seiner Haut,
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