Was allein das Herz erkennt (German Edition)
sich geweigert. Die Eishockeysaison war lang; der Hunde wäre allein gewesen, wenn Martin unterwegs war. Bei den Gardners lag der Fall anders: Dort war immer jemand da, der mit ihm spielte.
Natalie war am Boden zerstört gewesen. Eines Morgens hatte sie sich aus dem Haus geschlichen und war mit dem Fahrrad zum Tierheim gefahren. Sie hatte den Hund ›Archie‹ genannt und Martin den ganzen Sommer bekniet, sich die Sache doch noch einmal zu überlegen. Eines Morgens hatte er einen Anruf von der Leiterin des Tierheims erhalten. Offenbar kein Eishockey-Fan, hatte sie ihn mit giftiger Stimme aufgefordert, seine Tochter abzuholen.
»Wie können Sie zulassen, dass sie ganz alleine hierher fährt, bei dem Verkehr auf den Straßen!«
»Ich hole sie sofort ab.«
»Und sorgen Sie dafür, dass sie nicht wiederkommt. Der Hund war den ganzen Sommer hier und wird morgen eingeschläfert.«
Als Martin Nat abgeholt hatte, hatte sie sich weinend an Archies Hals geklammert. Martin hatte sie mit Gewalt von ihm trennen müssen, und dabei hatte ihn der Hund in die Hand gebissen. Natalie weinte unaufhörlich, und als Martin losfuhr, spürte er noch den kalten Blick im Nacken, mit dem die Frau ihm nachgeschaut hatte.
Martin erinnerte sich an Natalies Kummer und ihre Wut, als er Kylie nun beobachtete. Sie küsste den Basset auf das Ohr und der Hund blickte sie mit seinen großen, treuherzigen Augen an. Der Hund leckte Kylies Gesicht und enthüllte dabei graurosa Kiefer, die unteren Zähne waren ihm ausgefallen.
»Wie wäre es mit einem Welpen, Kylie? Oder mit einem kleinen Kätzchen?«, fragte er.
Kylie schüttelte den Kopf. »Ich möchte Thunder.«
»Na gut.« Martin wandte sich an Annes Mann. »Hast du was dagegen? Ich hatte den Eindruck, als wolltest du den Hund ohnehin nicht behalten.«
»Wollen wir nicht, aber lass lieber die Finger davon. Ehrlich, es würde ein schlechtes Licht auf uns werfen, wenn wir dir diesen Straßenkö–«
» Er ist kein Straßenköter! « Kylie war entrüstet, und Martin hätte Stein und Bein geschworen, dass sie sich anhörte wie Natalie.
»Ich würde ihn gerne bezahlen«, sagte Martin.
»Das ist nicht nötig.« Jean-Pierre schüttelte den Kopf. Er half Martin, die letzten Rosenbüsche auf den Lastwagen zu laden, während Kylie mit Thunder in die Fahrerkabine kletterte.
»Warum heißt er Thunder?«, fragte Kylie.
»Er hatte einen Bruder, Lightning«, sagte Jean-Pierre. »Das war ein Scherz, denn die beiden waren alles andere als Blitz und Donner. Sie taten nichts weiter als fressen und schlafen. Schlafzimmerblick und Stummelbeine, so was soll ein Wachhund sein! Sie lagen auf der Veranda herum, so lammfromm, dass sie sich von den Vögeln das Futter stibitzen ließen. Und die Tauben setzten sich auf ihre Köpfe.«
»Was ist aus Lightning geworden?«
»Mein Schwiegervater musste ins Krankenhaus und kam nie mehr nach Hause; der alte Lightning weigerte sich, zu fressen oder zu trinken. Wurde immer weniger und starb. Thunder und Lightning. Ja, das war schon ein Paar!«
»Bestimmt vermisst du deinen Bruder«, sagte Kylie zu dem alten Hund. »Und dein Herrchen. Deshalb bist du so schlecht gelaunt.«
»Die Kleine hat viel Fantasie«, sagte Jean-Pierre.
»Sie hat ein großes Herz«, sagte Martin betont gleichmütig, als er in den Lastwagen stieg; dann fuhr er rückwärts die Einfahrt entlang. Das nächste Mal würde er seine Rosenbüsche im Green Garden kaufen, nördlich an der Straße gelegen, die den See entlangführte. Anne Duprée war während der Schulzeit ein nettes Mädchen gewesen. Martin konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemanden geheiratet hatte, der dem Hund ihres Vaters einen Fußtritt versetzte. Kein Wunder, dass der alte Basset ihn gebissen hatte.
Aber er sollte lieber still sein, schließlich war er auch schon einmal gebissen worden.
*
Über Nacht hatte May einen neuen Rosengarten und einen alten Hund. Als sie ihren Kaffee mit nach draußen nahm, um den Sonnenaufgang zu beobachten, und durch die frisch eingepflanzten Rosenbüsche schlenderte, dachte sie über die Unwägbarkeiten des Lebens nach: Hinter jeder Ecke wartete etwas Unvorhergesehenes und jeder Tag war mit Überraschungen angefüllt.
»Na komm, alter Junge«, sagte sie zu ihrem Begleiter, dem betagten und noch unbekannten Basset namens Thunder. Thunder tappte durch die frisch umgegrabene Erde, steckte seine beachtliche Nase in die Erdfurchen und unter das Laub; schniefend und schnaufend ging er an ihrer Seite.
Die
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