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Was am Ende bleibt

Was am Ende bleibt

Titel: Was am Ende bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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auf der Straße wiedererkennen würde. Nach dem Tod meines Vaters habe ich sowieso das Interesse verloren. Jetzt stehe ich am Rand des Abgrunds, vor dem Aussterben. Nach mir hat mein Vater Schluß gemacht. Ein trauriger Gedanke. Wir hören einfach auf, unsere Familie …»
    «Auch niemand mehr in Frankreich?»
    «Ich glaube nicht. Vielleicht. Er hat niemals irgend jemanden erwähnt. Ich weiß nicht einmal, wer seine Eltern waren, was sein Vater machte. Mein Vater war wie ein Waisenkind.»
    Sie lächelte Charlie an und verstummte dann, von einer Sehnsucht gepackt, einer noch nie dagewesenen Sehnsucht, ihre Mutter wiederzusehen. Mein Gott … Sie war beinahe siebzig, inzwischen sonnentrunken, weil sie dieses kalifornische Leben lebte, dachte sie. Es war Monate her, seit sie ihr das letzte Mal geschrieben hatte, aber schreiben war so schwierig. Wenn sie mit einem Blatt Schreibpapier konfrontiert war, gelang es ihr nur, es mit Banalitäten zu füllen. Ihrer Mutter zu schreiben gab ihr das Gefühl, daß sie, Sophie, überhaupt kein Leben hatte. Aber ihre Mutter war eine alte Frau. Auf jeden Fall sollte sie zumindest ihr Alter respektieren.
    «Hast du deinen Vater gemocht?» fragte Charlie.
    «Ich habe ihn geliebt. Als ich ungefähr zehn war, begriff ich, daß er fast die ganze Zeit betrunken war. Meine Mutter baute ihr ganzes soziales Leben um die Idee herum auf, daß er eine leichte Sprachbehinderung habe und daher gehemmt sei. Als er einmal betrunken im Wohnzimmer auf den Boden fiel, fuhr sie einfach für ein paar Tage zu einer ihrer Freundinnen nach Sausalito. Die Immobilienfirma, die ihnen gehörte, lief unter seinem Namen. Aber die Geschäfte führte sie. Er hat mir einmal erzählt, daß es sein einziger Wunsch gewesen war, Flöte zu spielen, für einen guten Dirigenten zu arbeitenund mit den anderen Musikern im Orchestergraben zu sitzen.»
    «Warum hat er es dann nicht gemacht?»
    «Ach, er war da nicht so sentimental. Er ist träge mit seinem Leben umgegangen, hat er mir gesagt. Damals habe ich nicht gewußt, was er damit sagen wollte. Ich habe vermutlich geglaubt, er würde vom Üben sprechen. Meine Mutter ist nicht faul. Sie ist eine Verkörperung irgendeines Prinzips der hirnlosen Energie. Sie hat einen abscheulichen kleinen Garten voll mit Pflanzen, die sie dem Boden abgerungen hat, und Zwergspalierobstbäumen, und sie hat mir geschrieben, daß sie jetzt mit Zierschnitten angefangen hat. Wahrscheinlich raucht sie immer noch zuviel, und als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, klang ihre Stimme noch laut und herzlich, und als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie sommersprossig und sonnengebräunt, und ich nehme an, sie schiebt immer noch ihre Möbel so herum wie früher, als sie die Sessel mit aller Kraft ausklopfte, während mein Vater von der Tür aus zusah.» Sie lächelte. «Sie hatte immer alles im Griff», fuhr sie fort. «Bis auf ein Problem, das sie niemals in den Griff bekam: Es fiel ihr entsetzlich schwer, hallo zu sagen. Ich erinnere mich, daß sie, wenn Gäste kamen, in das Zimmer zurückwich, wie verrückt ihre Zigarette qualmte und wie eine in die Enge getriebene Ratte aussah, bis die Begrüßungen vorüber waren. Mit mir hat sie nie über meinen Vater gesprochen. Niemals.»
    «Wie ist er gestorben?»
    «Er hat sich mit einer italienischen Pistole erschossen, die er kurz vor ihrer Heirat in Rom gekauft hatte.»
    «Seht ihr euch überhaupt noch?»
    «Seit zehn Jahren nicht mehr. Ich glaube, demnächst muß ich mal hinfahren. Mein Vater hatte kleine, schöneFüße, und er war sehr stolz darauf. Nach seinem Tod fand ich ungefähr zehn Paar Schuhe von ihm, die in der Ecke eines Schrankes verstaubten. Ich konnte im Leder den Abdruck seines Fußgewölbes sehen – es war sehr hoch. Es waren englische Schuhe, und es waren Maßanfertigungen, so wie Mike Holstein sich diese italienischen Schuhe machen läßt.»
    «Wie geht es Mike? Ich mag ihn, soweit ich ihn überhaupt kenne.»
    «Dort waren wir heute abend», sagte sie. «Gestern abend.»
    Sie verspürte einen Anflug von Schwäche und schüttelte ganz leicht den Kopf. Er streckte ihr eine Hand entgegen. «Fühlst du dich nicht wohl?»
    «Müde», sagte sie. «Es überkam mich nur gerade. Was wird Ruth denken, wenn sie aufwacht und feststellt, daß du nicht da bist?»
    «Sie wird annehmen, daß ich an der Seite eines schönen blassen jungen Mädchens unterwegs bin, wo ich in meinem Alter auch sein sollte.»
    «Ach was, das tut sie nicht.

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