Was am Ende bleibt
Gedanken von mir lächelt er mich milde an, so, als sei ich verdammt in alle Ewigkeit. Er trägt ein Gummiband um seine Haare, damit sie ihm nicht in die Augen fallen, wenn er die Wand vor sich studiert, wo seine Visionen aufsteigen, und er wohnt in einem grauenhaften Slumhaus in East Orange. Wenn er nur etwas retten wollte, die Welt, zum Beispiel! Aber er ist dumm, dumm. Und die einzige Grundlage seiner Privilegien,ich, muß für immer und ewig Vorlesungen über William Dean Howells halten, der mich zu Tode langweilt. Ist das vielleicht Gerechtigkeit?»
«Du hast kein Gedächtnis», sagte Claire traurig.
«Das ist alles, was ich habe!»
«1939 hast du in der Sixth Avenue Flugblätter verteilt. Es gab keine Frage, auf die du keine Antwort hattest.»
«Und du und ich, wir lebten zusammen», sagte Leon.
«Und wir haben nie über Liebe gesprochen.»
«Das war nicht nötig.»
«Wir hatten alle das gleiche Geschlecht», sagte sie, unbändig lachend.
«Ja, ja …», rief Leon aufgeregt. «Niemand hat für uns bezahlt! Freitags bin ich in die Bronx gegangen und habe für meine Mutter die Kerzen angezündet und las in der U-Bahn, glücklich, gierig. Und ich habe für die Podjerskis gearbeitet und, obwohl sie mir kaum etwas zahlten, baten sie mich manchmal um Rat, weil ich aufs College ging! Sie tranken den ganzen Tag Tee, hinterließen ihre fettigen Fingerabdrücke auf den Gläsern und kannten alle ihre Angestellten beim Vornamen; bisweilen spielten sie Binokel mit dem alten Mann – ach, wie hieß er doch bloß? –, der die Revolverdrehmaschine bediente. Freitags schlossen sie den Laden früh, damit wir alle vor Sonnenuntergang nach Hause kamen. Einmal hatte ich vor ihnen eine Scheibe Salami mit einem Messer abgeschnitten, das ich gerade für Käse benutzt hatte, und sie schrien vor Entsetzen auf, hätten mich auf der Stelle gefeuert, wenn ich nicht zur Abendschule gegangen wäre.»
«Ich muß die
Potage Fontange
aufwärmen», kündigte Claire an. Sie band sich das Tuch um ihre Taille fest, das sich gelockert hatte, während sie rauchte und zuhörte; ihr Blick ruhte auf Leon, dann auf Sophie, mit geringem Interesse, wie bei jemandem, der nicht viel für Fischeübrig hat, sich aber plötzlich in ein Aquarium gesperrt wiederfindet.
«Warum mußt du dich so anziehen!» rief Leon gereizt. «Mutter Fummelage! Glaubst du, Charakter sei eine Entschuldigung für alles? Ach, Sie hätten sie früher sehen sollen, Margaret …»
«Sophie.»
«Sophie. Was für eine blauäugige Schönheit sie war! Und bewegte sich wie der Blitz, brachte leckende Toilettenspülkästen in Ordnung und wußte, wie man Stecker repariert, und ging mit dem Malerpinsel um wie ein Profi …»
«Es war Kemtone», rief Claire aus der Küche. «Wir zogen in diese schrecklichen Zimmer mit kaputten Fenstern und aufgerissenem Linoleum auf dem Boden, Zimmerdecken in der Farbe verfaulter Pfirsiche … Ich habe alles damit angemalt. Erinnerst du dich?»
«Damals konnte sie nicht kochen», sagte er. «Wir lebten von Makkaroni und Schinken aus der Dose und von was auch immer ich meiner Mutter klauen konnte, wie die Salami, die ich meistens zu Mittag aß. Was ist bloß aus uns allen geworden?»
«Wir sind alt geworden», sagte Claire aus der Küchentür.
«Und so viele sind schon tot.»
Sophie fühlte, daß sie in einem Aschenregen saß. Sie beugte sich vor, den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen, und fühlte, wie die weiche Flut ihr bis zu den Knien stieg. Das Eis in ihrem Drink war geschmolzen. Leon wechselte schwerfällig auf dem Sofa neben ihr die Position. Plötzlich spürte sie seine plumpe Hand auf ihrer Schulter. Seine Finger bewegten sich mit der Unruhe älterer Menschen. Sie wandte sich ihm zu. Er sah sie flehentlich an.
«Sie sagt, es sei das Alter. Darüber will niemand sprechen, oder? Nein. Demütigungen der Gedärme. Mein eigener Körper hat sich gegen mich gewandt. Haben Sie gehört, wie sie dieses eine Wort aussprach? Mit dieser weiblichen Gemütlichkeit? In dem Versuch, es zu neutralisieren?» Seine Hand fiel von Sophies Schulter herunter.
«Dagegen kann man nichts tun», sagte Sophie, aber er hörte sie nicht, denn zur gleichen Zeit hatte er zu schreien angefangen. «Du hast mich nie beachtet!»
«Ich habe dich immer beachtet, Leon», sagte Claire, während sie ins Wohnzimmer zurückkam und sich die Hände bedächtig mit einem Handtuch abtrocknete. «Ich habe nur gerade nicht zugehört. Wir sind nicht mehr miteinander
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