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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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und dann über den See.
    Und sie konnte ihnen nicht Einhalt gebieten: in ihren Gedanken tummelten sich die alten Verwandten, selbst diejenigen, an die sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gedacht hatte, die, die man nicht unbedingt einsperren mußte - andere Tanten, Onkel, der Cousin, der mit achtundzwanzig an Krebs gestorben war, und dann noch Freunde, die sie aus den Augen verloren hatte. Sie füllten die Halle, den breiten Treppenaufgang, lugten über das Mahagonigeländer, ließen den Blick über den See wandern, als ob die vorbeifahrenden Boote sie übersetzen würden -
    Return I will
    To old
    Bra-zil
    Irgendwo dort auf dem Rasen war Chad mit fünf, mit zehn, mit sechzehn. Komm, geh wieder rein. Natürlich konnte sie das keiner Menschenseele erzählen, denn wer würde verstehen, was sie meinte? Ein Psychiater, jemand wie Frau Dr. Hooper vielleicht, die heute im Rainbow gewesen war, aber wem sonst? »Besitzergreifend« würde Shirl sie nennen. »Du willst den Jungen einsperren, weiter nichts.« Selbstverständlich würde Shirl am wenigsten Mitleid mit ihr haben, denn sie war unentwegt damit beschäftigt, Joey anzubrüllen: er solle aufhören, ständig die Schule zu schwänzen, oder seinen Arsch aus dem Haus bewegen und arbeiten gehen. Und doch fand Maud nicht, daß sie besitzergreifend war - nicht in diesem Sinne. Sie runzelte die Stirn, versuchte angestrengt, zu ergründen, was es war, warum sie sich wünschte, zurückgehen zu können und alles noch einmal zu betrachten - nicht wie man Schnappschüsse betrachtet (die verursachten ihr nur Schmerz), sondern alle Stadien des Erwachsenwerdens klar vor sich zu sehen wie die Lichtstreifen, die von den Laternen über das Wasser geworfen wurden.
    Sie griff nach dem Gedichtband in ihrem Schoß, während sie über den See blickte - die Musik war jetzt lauter, schneller, die schrille Stimme der Sängerin fuhr einem durch Mark und Bein - und über die Frau im Gedicht nachdachte, die singend am Meer entlangwanderte. Maud hatte immerhin verstanden, daß die Frau, die in diesem Gedicht sang, eine Art Macht über das Meer besaß. Diese gewöhnliche, sterbliche Frau konnte dem Meer auf irgendeine Weise gebieten.
    Aber die Sängerin war nicht gewöhnlich, mußte Maud sich verzweifelt eingestehen. Offensichtlich sah der Dichter in der Frau eine Künstlerin. Eine Sängerin, Dichterin, Musikerin - eine Künstlerin. Sie besaß »Genie«, und das war der Grund für ihre Macht, wobei Maud nicht wußte, worin diese Macht bestand, nur, daß sie ungeheuer wichtig war.
    »Tina Turner.«
    Maud zuckte leicht zusammen, als sie Sams Stimme hörte. Sie erinnerte sich nur noch halb daran, daß er vor wenigen Augenblicken zu reden aufgehört hatte, einfach schweigend dasaß, sein Bier trank und den Feiernden jenseits des Wassers lauschte. »Was? Was?« Sie blinzelte ihn an.
    Sam nickte zum gegenüberliegenden Ufer. »Tina Turner.« Er gähnte, hielt sich höflich die Hand vor den Mund und schaute auf das Buch in Mauds Schoß. »Versuchst du noch immer dieses Gedicht über Key West zu verstehen?«
    Es ärgerte sie - tja, war ihr ein bißchen peinlich -, daß er anscheinend ihre Gedanken lesen konnte. Gereizt fragte sie: »Woher weißt du, daß es Tina Turner ist? Das kannst du doch unmöglich wissen. Es ist zu weit weg.«
    »Tja, ich weiß es eben.«
    Er wußte es nicht; es war irgendeine Sängerin und ein schneller, hektischer Song. Kaum einer tanzte; man sah nur ein Häufchen winziger Gestalten. Die kleinen Kleckse der Abendkleider gefielen ihr, obwohl die Dunkelheit, die Entfernung und das Licht der Laternen sie dämpften, die Rosatöne verwischten und sie lavendelblau erscheinen ließen. Und dann erkannte sie, daß sie derartige Verwandlungen genausowenig erkennen konnte, wie Sam hören konnte, wessen Stimme da sang. Eine Gestalt - ein Mann, dachte sie sich - löste sich aus der Gruppe, ging langsam hinunter ans Dock und blieb rauchend stehen.
    »Es ist nicht über Key West«, sagte sie, als Sam sich einen Kaugummistreifen in den Mund steckte. Manchmal tat er das, ehe er sich verabschiedete, und sie wollte nicht, daß er ging.
    »So heißt es doch im Titel. ›Die Idee der Ordnung -‹!«
    Sie gab einen langen Seufzer von sich. »Ach du lieber Gott.« Sie begann, ihm einen Vortrag zu halten, und dachte dabei, sie sollte vielleicht ihren Ton ändern, wenn sie ihn wirklich davon abhalten wollte zu gehen. Geduldig erklärte sie. Erklärte es noch einmal. »Es geht um eine Art von Ordnung -«
    »Das

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