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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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sie vielleicht sehr gerne gemocht, wenn sie eine gute Frau gewesen wäre. Sie war ein Gewohnheitsmensch - genau wie er.
    Sie war verläßlich. Man konnte darauf bauen, daß sie sich immer gleich verhielt, die gleichen Dinge zur gleichen Zeit tat. Man konnte sich auf sie verlassen.
    Der Gedanke ließ ihn zögern, riß ihn aus seinem rhythmischen Schritt, und er fühlte, wie sich ihm ein ganz klein wenig die Brust zusammenzog.
    Das Messer im Lederetui rieb an seinem Schenkel. Er zog es heraus und fuhr behutsam mit dem Daumen über die Klinge.
    Auch wenn er langsamer ging und ein immer größerer Abstand zwischen ihnen entstand, konnte er sie wegen ihres Mantels gut sehen. Ihr Mantel war weiß ( dein Kleid war blau).
    Sein Fuß scharrte auf dem Asphalt, als er stehenblieb. Er kniff die Augen zusammen und legte die Hand ans Ohr, rieb mit dem Handballen daran wie ein Schwimmer, dem Wasser ins Ohr gedrungen ist. Woher kannte er nur diese Zeile? »Ich war ganz in Blau.«
    Er ging schwerfällig weiter. Er sah die Kiefern, gleich da hinten, wo der Asphalt aufhörte, und wußte, daß sie dort die Straße entlangwandeln würde. Sie war eine Träumerin, eine Schlafwandlerin (»Ich war ganz in Blau«).
    Er stolperte ein wenig; der Druck in seinem Kopf wurde stärker.
    »Ich war ganz in Blau...«
    Zwei Menschen. Sie sangen. Das Bild, das immer wieder vor seinem inneren Auge aufflimmerte, zeigte einen Mann und eine Frau, die irgendwo vor einem gemalten Sonnenuntergang am Meer saßen und sangen. Seine Hand am Messergriff war glitschig. Seine Fingernägel bohrten sich in die Haut. Irgend etwas entzog sich ihm, und er spürte, wie die Enge in der Brust auf die Glieder ausstrahlte. Es war nicht der gleiche Druck, den er vor vier Jahren oder vor zwei oder vor einem gespürt hatte. Der damalige Schmerz schenkte ihm den Trost, der in der gerechten Sache liegt.
    Er hatte sie, ohne es zu merken, eingeholt. Jetzt blieb sie stehen. Ihm wurde kalt. Falls sie sich umschaute... Er trat hinter die gemauerte Auffahrt des letzten Hauses.
    Aber sie schaute nicht zurück. Sie wußte, daß sie zugrunde gehen mußte. Die anderen hatten es auch gewußt; ihr Widerstand war nur Theater; nur ein freundlicher Einwand.
    Sein Gesicht fühlte sich an, als wäre es eingeölt wie das Messer, allerdings vom Schweiß; er wischte sich mit dem Arm über die Stirn. Er spürte, wie ihn seine Zielstrebigkeit verließ, und versuchte, stur an ihr festzuhalten. Die Stimmen der Sänger bedrängten ihn. Er versuchte, auch sie abzuschütteln, und marschierte weiter.
    Warum schaute sie nicht zurück?
    Als er die Frau im Oasis sah, hatte er gar nicht gewußt, warum er gerade sie auswählte, seine Schritte ausgerechnet in ihre Richtung lenkte. Ihre Lippen waren feucht und glänzend wie roter Lack, der im rauchigen Licht des Oasis schimmerte. Diese silbrige Bluse, durchsichtig wie Wasser, die um ihre Brüste und die Brustwarzen wogte und Wirbel schlug... Schluß damit. Erst später hatte er von dem kleinen Jungen gehört, ihrem kleinen Jungen...
    So als habe jemand in seinem Hirn einen Hebel umgelegt, knisterte plötzlich ein Draht, und sein Kopf wurde nach links gerissen; er spürte den Strom im Körper. Er weinte, verlor seinen Willen; er lief aus ihm heraus wie der Saft aus einem Baum.
    Um sich zu beruhigen, um eine Art Grenze um sich zu ziehen, betrachtete er eingehend die Häuser rechts und links. Das war Miss Ruths vordere Veranda, schokoladenbraun gestrichen. Willow Pauleys Haus, ein wenig abseits der Straße, wo man durch die Bäume noch Licht erkennen konnte; war sie wach? Die Reihe der Pumpen an der Tankstelle.
    Die vertrauten Fenster und quadratischen Muster von La Porte ließen ihn wieder freier atmen. Warum ging sie immer bis an den Rand des Asphalts und betrat doch nie die ungeteerte Straße, den Wald? Ging das jetzt nicht schon viel zu lange so?
    »Ich war ganz in Blau.«
    Die Stimmen der Sänger schwollen an, und eine Szene aus einem alten Film schoß ihm durch den Kopf. Sie ging jetzt auf die Bäume zu, und er erinnerte sich an das kleine Mädchen in dem Film, jenes Mädchen, das sich fast über Nacht in eine Frau verwandelt hatte. Aber ihr Kleid war weiß - von einem intensiven, jungfräulichen Weiß, mit einer Schärpe so schwarz wie die Sünde. Sein Körper fühlte sich schwerelos an wie der Dunstkegel, den die letzte Gaslaterne warf.
    Ihm weit voraus, war sie klein in der Ferne und der weiße Mantel nicht größer als eine Motte.
    Er trat von dem letzten

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