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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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kaum zwanzig. Obwohl sie ihr ganzes Leben lang so hart gearbeitet hatte. Nur die Hände waren gealtert. Er erinnerte sich, wie sie dastand, die roten, rauhen Hände rang und ihn fragte, ob er ihr helfen könne, ihren Jungen zurückzubekommen. Ich hab ihm nie was getan, Sheriff. Ich könnte dem lieben Jungen nie, nie was tun. Sam sagte ihr, er wisse, daß sie es nicht getan hätte und nie tun würde. Wie ein Verrückter versuchte er, die Behörde zu einer Wiederaufnahme des Falles zu bewegen, aber bei all den ändern »Unfällen«, die das Kind erlitten hatte, tja, und jetzt waren es schon gebrochene Glieder, und das ging einfach zu weit. Arme Nancy.
    Arme Nancy. Auch jetzt, zwei Monate danach, konnte Sam noch immer kaum glauben, daß Nancy Alonzos Lohn für all die harte Arbeit und all das Leid ein gräßlicher Tod gewesen sein sollte.
    Sam hob den Kopf von den gekreuzten Händen und beobachtete Willows Fenster. Sims fiel es nicht schwer, das zu glauben, dachte sich Sam. Sims behandelte den Mord an Nancy Alonzo und Boy Chalmers’ Flucht aus dem Gefängnis fast so, als seien das nur weitere Belege, Visitenkarten vom Himmel, die er ruckzuck aus der Tasche ziehen und dem Sheriff präsentieren konnte.
    Durch die Windschutzscheibe schaute Sam mit zusammengekniffenen Augen nach Willows Hintertür, der kleinen Holzveranda und den zu ihr hinaufführenden Stufen. Wahrscheinlich war die Tür nicht abgesperrt.
    Das Problem war, es gab künstliche Beschränkungen, die er sich selber auferlegt hatte. Er setzte ziemlich viel voraus; er war sich dessen bewußt. Auch wenn er von diesem untrüglichen Gefühl ausging, daß Boy Chalmers diesen Mord bei der »Oase« nicht begangen hatte, und von dem sicheren Wissen, daß die Polizei von Hebrides und die Staatspolizei nicht groß nachgeforscht hatten, dann hatte er da zumindest einen Ausgangspunkt. Jemand anders hatte es getan, und um überhaupt weiterzukommen, nahm er an, daß es jemand aus der Gegend war. Sedgewick redete immer von Hebrides und La Porte und daß das doch zwei verschiedene Orte seien. Aber der Mord an Tony Perry hatte sich in jenem Niemandsland des Waldes abgespielt; und das Bar- und Grillrestaurant Oasis, das lag fast so nahe bei La Porte wie bei Hebrides.
    Auf jeden Fall mußte er es, wenn er überhaupt etwas in eigener Regie und während seiner Freizeit unternehmen wollte, aufgeben, in Hebrides Stichproben zu machen. Er kannte die Frauen dort nicht, er kannte ihre Gewohnheiten nicht; und der Ort war größer als La Porte. Er befand sich auch außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, was ihm allerdings scheißegal war.
    Die Zeit, die er vergeudete, war seine eigene Zeit.
    Er seufzte, wandte den Blick zum Hinterfenster der hellerleuchteten Küche und sah tatsächlich, wie Willow eine Kerze anzündete, so als erwarte sie einen Verehrer. Dieses altmodische Wort kam ihm unwillkürlich in den Sinn. Und Willow Pauley war keine Frau, die Verehrer hatte.

7
    S eit fast einem Jahr beobachtete er sie.
    Er beobachtete sie jetzt, wie sie die Treppe des Hauses herunterkam, sich am Holzgeländer festhielt und vorsichtig die Füße voreinandersetzte wie ein alter oder gebrechlicher Mensch. Sie hielt den Kopf gesenkt, schaute zu Boden, und das Licht der Straßenlaterne setzte ihr eine silberne Mütze auf. Sie erreichte die Straße, schlug den Mantelkragen hoch und ging dann in Richtung Norden, bis der Asphalt plötzlich endete. Es war, als sei die Grenze La Portes hier exakt markiert.
    Von seinem jetzigen Standort aus konnte er, während er die Klinge des Sägemessers in ein eigens dafür angefertigtes Lederetui schob, in beide Richtungen schauen. Er hätte keine bessere Stelle auswählen können, um zu beobachten, wer die Main Street rauf- und runterging. Niemand konnte ihn sehen; niemand wußte, daß er da war.
    Schlau war er immer gewesen. Er senkte den Kopf und kicherte. Es war schon komisch, wirklich komisch. Dann zog er ganz nüchtern den Reißverschluß seiner Jacke hoch und verließ wie jedes andere Geschöpf der Nacht - wie ein Fuchs seinen Bau - seinen sicheren Ort.
    Ihr Mantel war weiß oder cremefarben. Das machte es leicht, sie in der Dunkelheit, die nur von den mattgelb glühenden Dampflampen durchbrochen wurde, im Auge zu behalten. Hier war die Stadt zu Ende; kein Mensch war zu sehen, und um diese nachtschlafende Zeit spazierte sowieso niemand in Richtung Stadtgrenze. Er hatte das zu oft und zu lange beobachtet, um sich zu täuschen.
    Irgendwie mochte er sie, hätte

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