Was bin ich wert
Heiligabend 1993 hatten sechs Menschen in Los Angeles schwere Verbrennungen erlitten, nachdem ihr Auto, ein Chevrolet Malibu Baujahr 1979, nach einem Unfall in Flammen aufgegangen war. Für die unzureichend gesicherte Treibstoffversorgung machte die Klägerin Patricia Anderson, die mit ihren vier Kindern und ihrem Freund in dem Wagen gesessen hatte, den Hersteller General Motors ( GM ) verantwortlich. GM wies alle Schuld von sich, betonte, das Treibstoffsystem des Fahrzeugs sei sicher und man habe alle gesetzlichen Standards erfüllt oder übertroffen, und lehnte daher jede Schadensleistung ab.
Der Prozeß nahm eine entscheidende Wende, als ein internes Memorandum des GM -Ingenieurs Edward Ivey aus dem Jahr 1973 auftauchte. Ivey war der Konstruktionsmangel bekannt. Doch anstatt die verkauften Autos zurückzurufen und das Problem zu beheben, griff er zum Taschenrechner und nahm eine Kosten-Nutzen-Rechnung vor. Er ging von jährlich 500 Opfern aus, die in von GM produzierten Autos verbrennen würden. Jedem Toten maß er einen Wert von 200 000 Dollar zu, wobei er sich auf entsprechende Zahlen der Highway Traffic Safety Administration berief, die seit Beginn der fünfziger Jahre Kosten-Nutzen-Analysen zur Verkehrssicherheit durchführt. Ivey stellte fest, daß 41 Millionen GM -Fahrzeuge auf US -Straßen unterwegs waren. Dann multiplizierte er die 500 Toten mit den 200 000 Dollar und dividierte das Produkt durch die 41 Millionen Fahrzeuge.
Er kam auf 2,40 Dollar. Soviel würden die Toten nach Iveys Rechnung pro Fahrzeug »kosten«, wenn es zur maximalen Summe an Schadenersatzansprüchen käme. Das bedeutete, daß eine Produktionsumstellung oder Nachrüstung zur Vermeidung der Gefahr weniger kosten mußte als 2,40 Dollar pro Fahrzeug. Ansonsten würde GM nämlich »unnötige« Investitionen tätigen. Für die sicherere Montage der Benzintanks kalkulierte GM aber mit 8,59 Dollar pro Auto. Die Sicherheit und das Leben von nach Iveys Schätzung 500 Menschen hätten GM also 6,19 Dollar pro Fahrzeug gekostet – eindeutig ein Verlustgeschäft. Der Hersteller verzichtete auf die Sicherheitsmaßnahmen.
Doch die Autobauer hatten nicht mit den Geschworenen im Fall Patricia Anderson gerechnet. Die verurteilten GM zur Zahlung von unglaublichen 4,9 Milliarden Dollar. Eine Rekordstrafe, die von Richter Ernest G. Williams später auf immerhin noch 1,2 Milliarden Dollar reduzierte wurde.
Eine enorme Summe, aber kein Happy-End, denn Anderson, vor allem aber ihre Kinder sind durch die Brandwunden für ihr restliches Leben entstellt. Die Medien feierten das Urteil als »Sieg der Gerechtigkeit«, während GM vor allem Schadenfreude erntete.
Doch was ist GM eigentlich vorzuwerfen? Daß sie überhaupt eine solche Kalkulation vorgenommen und entsprechend gehandelt haben? Oder daß sie falsch, das heißt mit falschen Zahlen gerechnet haben? Hätte Ivey den Wert eines Menschen nicht mit 200 000, sondern, sagen wir, mit 738 000 Dollar kalkuliert, hätten die Toten pro GM -Fahrzeug neun Dollar »gekostet«. Damit hätte sich die Umrüstung zumindest auf der Basis der Ivey-Kalkulation »rentiert«.
Sollte man Kosten-Nutzen-Rechnungen bei Sicherheitsinvestitionen also besser unterlassen? Sollte der Gesetzgeber sie vielleicht sogar – wie auch immer – verbieten? An Sicherheit darf auf keinen Fall gespart werden – egal was es kostet? Soll man all das, was an schützender High-Tech etwa in einer großen Luxuslimousine steckt, auch in jeden Kleinwagen einbauen? Aber wer kann sich solche Autos dann noch leisten?
Also doch kalkulieren? Mit dem »richtigen« Wert für ein Menschenleben? Gut. Aber was war noch mal der richtige Wert?
Als im Frühjahr 2010 Toyota und General Motors (!) wegen technischer Mängel Millionen Fahrzeuge in die Werkstätten rufen müssen, erklärt der ADAC -Ingenieur Helmut Klein das in der Süddeutschen Zeitung mit dem Bestreben, die Kosten zu senken: »Kostenverantwortliche setzen in vielen Fällen lieber auf günstigere Lösungen als auf technisch perfekte.«
Ich hole tief Luft, dann schreibe ich an VW , Mercedes, Audi, Porsche, BMW und Ford. Ich möchte wissen, wie sie Sicherheitsinvestitionen kalkulieren, ob beziehungsweise nach welchen Methoden sie Kosten-Nutzen-Rechnungen vornehmen und inwieweit sie dabei mögliche Personenschäden monetär kalkulieren.
Die Antworten, die ich bekomme, sind unter der Rubrik »Eigenwerbung« zu verbuchen. Keiner der Hersteller bekennt sich zu
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