Was bin ich wert
Nebenwirkungen leidet, bekommt für die nötigen zusätzlichen Arztbesuche Geld. Wieviel, wird nicht gesagt. Das Kind, dessen Vater für den heutigen Termin offensichtlich ein Betreuungsproblem hat, versteht nicht, worum es geht, fängt aber trotzdem an zu nörgeln.
Wir dürfen Fragen stellen. Die meisten drehen sich ums Honorar. Die 2680 Euro sollen in drei Stufen ausgezahlt werden. Mein Nachbar erwähnt, daß immer mehr Studien in die Dritte Welt ausgelagert würden, weil es dort billiger sei. Auch sollen die »ethischen Kriterien« dort lockerer sein.
Dann geht es noch um den anstehenden neuntägigen Klinikaufenthalt. Ein Proband mit einschlägiger Erfahrung berichtet von Acht-Bett-Zimmern mit Dauertelefonierern und täglichem Ausgang auf dem Klinikgelände von maximal einer Stunde in geführten Gruppen.
Das Kind heult jetzt. Zum Glück ist die Veranstaltung beendet. Alle geben ihre ausgefüllten Zettel ab. Ich bin der einzige, der nicht mitmachen will. Wieso tun sich die anderen das an? Keiner zwingt sie. Einen selbstlosen Dienst an der Wissenschaft mag ich ihnen nicht unterstellen. Ist es wirtschaftliche Not? Sicher nicht im strengen, existentiellen Sinn. Es geht ums Geld, das man für das Gesundheitsrisiko bekommt, dem man sich aussetzt. Eine persönliche Kosten-Nutzen- beziehungsweise Nutzen-Risiko-Rechnung. Das alles ist legal und nach der Kant-Interpretation des Philosophen Gerhardt wohl auch legitim, aber es ist – so finde ich – vor allem auch traurig. Ein langhaariger Künstlertyp murmelt beim Hinausgehen etwas von »Kohle für die Karibik«.
25.
Wann bin ich eine Nachricht wert?
Ein Besuch bei der Tagesschau
Es ist Zeit, mich einer anderen, für mich als Journalisten eigentlich recht naheliegenden Inwertsetzung zu widmen. Ich meine meinen »Nachrichtenwert«. Der Begriff kommt aus der Nachrichtenforschung. Im Grunde geht es darum, unter welchen Umständen etwas berichtenswert ist, das heißt, nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ob und wie etwas ins Blatt oder in eine Sendung kommt. Der Nachrichtenwert kann, es gibt da verschiedene Theorien, über den Neuigkeitswert und den Informationswert bestimmt werden. Dazu kommen noch der Wissens- und Orientierungswert, der Gebrauchswert sowie der Unterhaltungs- und Gesprächswert. Alles in allem sind das also eine Menge Werte.
Leider gibt es aber keine Tabellen oder Formeln, die mir helfen könnten, meinen persönlichen Nachrichtenwert zu bestimmen. Und die vermeintlichen Experten, die ich dazu befragen wollte, haben lieber gleich abgewunken. Dann gehe ich eben direkt zu den »Nachrichten«. In Deutschland heißt das, ich gehe zur Tagesschau .
Dort treffe ich Oliver Hähnel, der vom Typ her an einen Heavy-Metal-Musiker erinnert. Kräftiger Körper, längere Haare, schwarzer Kapuzenpulli, locker sitzende Jeans, Sportschuhe. Oliver Hähnel ist Chef vom Dienst bei der Zwanzig-Uhr- Tagesschau , der ältesten und, wie er selbst sagt, »nachrichtigsten aller deutschen Nachrichtensendungen«. Ein Chef vom Dienst – kurz CvD – ist dafür verantwortlich, daß der Laden läuft. Hähnel macht das seit ein paar Jahren, und er macht es offensichtlich gern.
Vor dem Gespräch führt er durch die Redaktionsräume des Tagesschau -Hauses in der kleinen Fernsehstadt des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg-Lokstedt. Drei Stockwerke, viel Glas, viel Licht, große Büros mit vielen, oft sehr großen Bildschirmen, auf denen die Programme anderer Senderlaufen. Ein paar Dutzend Redakteure hängen mit konzentriertem Blick und entspannter Haltung vor ihren Monitoren. Aus Ereignissen der ganzen Welt werden hier Nachrichten für im Schnitt täglich etwa 9,5 Millionen Zuschauer.
– Alles was passiert, wird nach seinem Nachrichtenwert beurteilt.
Hähnel sitzt in einem fast leeren Büro, in der Hand eine Flasche Mineralwasser.
– Dabei geht es für uns in erster Linie um den politischen Kern. Also um die Frage, ob das Ereignis politische Auswirkungen hat oder haben könnte. Zweitens geht es um mögliche gesellschaftspolitische Folgen, und drittens fragen wir, was das mit dem Interesse unserer Zuschauer zu tun hat. Nachrichten aus Deutschland haben demnach einen höheren Wert als Nachrichten aus Myanmar oder Argentinien.
– Kommen 100 tote Argentinier eher in die Nachrichten als zehn tote Deutsche?
Dann wäre ein Deutscher, und somit auch ich, nachrichtentechnisch zehn Argentinier wert. Das ist eine kleine Fangfrage. Das weiß auch Hähnel. Er schüttelt den
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