Was bin ich wert
auf das es einen Anspruch gibt. Wenn der medizinische Leistungskatalog aber festgelegt und bekannt ist, gibt es das Problem nicht. Auf der anderen Seite ist es eine arglistige Täuschung, wenn man den Leuten vormacht, es gebe alles, und das dann nicht einhält. Da muß man rechtzeitig ehrlich sein, damit jeder das, was er braucht oder haben will, privat zukaufen kann.
Letzte Frage.
– Diese Probleme im Gesundheitswesen – sind das eher ökonomische oder eher ethische Probleme?
– Das trenne ich nicht. Es geht um das rationale Abwägen der Vor- und Nachteile einer Handlung. Wir versuchen herauszufinden, was für den Menschen gut ist. Ökonomie ist angewandte Ethik.
Nach dem Abschied wird mir klar, welche Ethik er meint. Schon Spengler hatte seine Rechnungen zum Wert eines statistischen Lebens als »ethisch« bezeichnet. Es ist – der Philosoph Gerhardt hatte es erklärt – die Ethik der Utilitaristen, die auf das »größte Glück der größten Zahl« zielt, dabei aber den Willen und auch die Würde des einzelnen im Zweifelsfall übergeht. Sind Breyer und seine Kollegen tatsächlich bereit, das in Kauf zu nehmen? Ich glaube, mit den QALY-Freunden der Gesundheitsökonomie bin ich noch nicht ganz fertig.
Angesichts all dieser Abgründe verspüre ich das leise Bedürfnis nach etwas Trost, vielleicht sogar Rat, eine kleine Hilfestellung bei der Justierung meines moralischen Kompasses. Wer könnte mir helfen? Meine erste Idee erschreckt mich selbst: die Kirche.
Ich bin zwar getauft und auch konfirmiert, aber nicht religiös. Und aus der Kirche bin ich schon vor vielen Jahren ausgetreten. Damals habe ich mir vorgenommen, die »gesparte« Kirchensteuer lieber an Hilfsprojekte zu spenden. Im großen und ganzen gelingt das auch. Kirchlichen Beistand oder religiösen Rat habe ich seitdem nicht vermißt. Jetzt ist das anders. Ein bisschen zumindest.
Ich glaube, daß die Kirche auf die Frage »Was bin ich wert«? eine Antwort haben müßte. Ich weiß auch, wer sie mir geben könnte: Olaf Polossek. Olaf Polossek ist nämlich der einzige Pastor oder Pfarrer, den ich kenne. Er ist etwa so alt wie ich und für die St.-Marien-Liebfrauenkirche verantwortlich. Die liegt bei mir um die Ecke in der Kreuzberger Wrangelstraße. Als ich mal für ein Radiofeature über den Kiez recherchiert habe, habe ich auch Polossek interviewt. Er sprach offen. Ich fand ihn sympathisch. Daß er katholisch ist, hat zumindest den Vorteil, daß mir die Haltung der Katholiken in der Regel nicht sympathischer, aber eindeutiger zu sein scheint als die ihrer evangelischen Glaubensbrüder. Ich rufe ihn an. Er hat viel zu tun. Aber er ist einverstanden. Vor diesem Gespräch kommt es aber noch zu einer ganz anderen Begegnung.
38.
»Der Mensch ein Keks« oder »die Krönung der Schöpfung«.
Eine Spontanumfrage in der Kreuzberger Wrangelstraße
Auf dem Weg zu Pfarrer Polossek passiere ich eine Gruppe Obdachloser. Dazu muß man wissen, daß der Wrangelkiez in den letzten Jahren eine Art Klischeewechsel erlebt. Er entwickelt sich vom »Problemviertel« zur »hippen Szenegegend«. In den meisten Straßen stimmt die Balance. Aber es ist höchst unsicher, ob das so bleibt. Insgesamt wird es immer schicker und teurer. An einer Kreuzung sitzen also sechs weniger schicke Männer und eine weniger schicke Frau zwischen 30 und 60 Jahren. Sie tragen Jeans und T - oder Sweat-Shirts und eine Reihe verwegener Tätowierungen. Der Ausdruck ihrer Gesichter zeugt von manch übler Erfahrung. Die Kleingruppe hat sich auf zwei Bänke verteilt, zu ihren Füßen steht schon um elf Uhr vormittags ein Haufen leerer Bierflaschen. Dazu Sonnenschein und beruhigter Straßenverkehr. Alles in allem eine klassische Kreuzberger Idylle. Sonst gehe ich hier immer vorbei, froh darum, nicht angeschnorrt zu werden. Heute bleibe ich stehen. Nach drei Minuten werde ich bemerkt.
– Was willst du?
– Guten Morgen, ich hätte mal ne Frage.
– Frag!
– Was ist ein Mensch wert?
Ich frage lieber allgemein. Die erste Reaktion ist spontan, laut und besteht aus dreimal »Häh?«, zweimal »Was?« und einmal »Wie bitte?!«
– Ich würde gern von euch wissen, was ein Mensch wert ist?
– Einen Keks.
– Warum ist ein Mensch einen Keks wert?
– Der Mensch ist soviel wert wie: »Kannste reinbeißen und wegschmeißen.«
– Ah ja.
Ich warte.
– Schwierige Frage.
Sagt einer.
– Scheißfrage.
Sagt ein anderer.
– Meinst du in
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