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Was bisher geschah

Was bisher geschah

Titel: Was bisher geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Loel Zwecker
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Anne Frank (1946) und von Victor Klemperers Tagebüchern vergegenwärtigen. Ähnlich dem Schulmädchen Anne Frank, das kurz vor Kriegsende im März 1945 im KZ Bergen-Belsen an Typhus stirbt, schildert der Literaturwissenschaftler, der überleben wird, wie aberwitzig bürokratisch die sadistische Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft abläuft. So werden ihnen zunächst – teils zu bestimmten Uhrzeiten – bestimmte Bereiche der Stadt, Einrichtungen wie Theater und Verkehrsmittel verboten. Passend dazu heißt es in Klemperers Buch LTI (= Lingua Tertii Imperii, 1947) über die Sprache des Dritten Reiches, der Nazismus »glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden«. Klemperer analysiert die Normalisierung des Wahnsinns in Reden, Plakaten, Artikeln, Bescheiden und Alltagsgesprächen. Er zeigt, wie mit Hilfe von unpassenden technischen Begriffen, falschen Superlativen, der Mischung aus rohen Beschimpfungen und schwülstigen Fremdwörtern verharmlost, gehetzt und vernebelt wird: »eliminieren« statt ermorden; »artfremd« für Juden; »Krise« für Niederlage. Dazu noch die ständige sinnlose Verwendung von »Volk« (»gesundes Volksempfinden« = brutale Willkür), »Welt« (»Weltfeinde« = Bolschewisten, »Weltverschwörung« = Plan der großkapitalistischen Juden) und religiös anmutenden Phrasen wie »In der dreizehnten Stunde kommt Adolf Hitler zu den Arbeitern«.
    Klemperers Ausführungen stehen auf theoretischen Grundlagen, die der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) und der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erarbeiten, wenn sie das komplexe Verhältnis von Zeichen und Realität und Bedeutungsveränderungen von Sprache in diversen Kontexten beleuchten. Insgesamt sind beim Versuch, den Nazi-Wahnsinn zu analysieren, jene Instrumente hilfreich, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts Verbreitung finden. Etwa die Psychologie Freuds mit Begriffen wie Unbewusstes, Projektion, Verdrängung, Todestrieb, Regression oder Gustave Le Bons Psychologie der Massen (1895) über deren negative Eigendynamik und Steuerbarkeit.
    Weil die Nazi-Verbrechen dennoch unfassbar bleiben, schwankt ihre Darstellung zwischen Dämonisierung und Banalisierung. Letzteres und damit eine angebliche Verharmlosung wurde der Publizistin Hannah Arendt vorgeworfen, als sie den Begriff »Banalität des Bösen« prägte: Sie hatte beobachtet, wie sich der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der den Mord an den europäischen Juden mit organisierte, 1961 bei seinem Prozess in Israel buchhalterisch kalt und pseudophilosophisch zum Opfer seiner Vorgesetzten erklärt. Im Prozess spricht er von der nur »Pilatusschen Zufriedenheit« mit seiner Tätigkeit und meint: »Von Staats wegen musste ich aus der Einheit der Ethik in eine der Vielheiten der Moral umsteigen.« Mit Hannah Arendts Begriff wird auch die Frage nach der Einzigartigkeit oder Wiederholbarkeit des Grauens gestellt – eine Frage, die im sogenannten Historikerstreit von 1986 diskutiert wurde und immer wieder aufgeworfen wird.

Der Zweite Weltkrieg – mörderische Niedertracht und falsche Wohlstandssphäre
     
    In Sachen Allianzen und Frontverläufen ähnelt der Zweite Weltkrieg dem Ersten auf teils verblüffende Weise. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Ersten Weltkrieg und Hitlers Krieg aber ist die Tatsache, dass die Nationalsozialisten diesen Zweiten Weltkrieg nutzen, um ihr Mordprogramm gegen Juden, Sinti und Roma und andere Minderheiten durchzuführen. Doch es gibt noch weitere Unterschiede: die Dimensionen, das brutale »Lebensraum«-Konzept und die Tatsache, dass die Zivilbevölkerung nun viel stärker betroffen ist. Mehr noch als beim Ersten Weltkrieg gehen dem Zweiten Weltkrieg andere Kriege mit internationaler Beteiligung voraus. Schon vor Deutschlands Überfall auf Polen am 1. September 1939 und den folgenden Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens an Deutschland herrscht Krieg in Europa und dem Rest der Welt.
    So überfällt Mussolinis Italien 1935 Äthiopien, wogegen nur Mexiko im Völkerbund protestiert, und im April 1939 Albanien. Im Spanischen Bürgerkrieg setzt sich General Franco zwischen 1936 und 1939 mit italienischer und deutscher Waffenhilfe gegen die Republikaner durch. Für Franco fliegt die deutsche Legion Condor – auch zur »Praxisausbildung« nach Spanien

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