Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
die V2, sondern das heutige atomare Vernichtungspotential einer Supermacht zur Verfügung gestanden hätte). Und was den Appell an die Vernunft des einzelnen im konkreten Fall betrifft: Ein »Überleben der Menschheit« ist durch den je einzelnen als einzelnen (etwa wenn er, wie heute nicht wenige junge Paare, Fortpflanzungsboykott übt) ja nicht gefährdet – warum sollte es dann im konkreten Fall kategorisch gefordert werden?
Ja, warum soll – vorausgesetzt man geht selber kein Risiko ein – ein Verbrecher seine Geiseln nicht töten, ein Diktator sein Volk nicht vergewaltigen, eine Wirtschaftsgruppe ihr Land nicht ausbeuten, eine Nation einen Krieg nicht anfangen, ein Machtblock nicht notfalls gegen die andere Hälfte der Menschheit die Raketen steigen lassen, wenn das eben im ureigensten Interesse liegt und es keine transzendente Autorität gibt, die unbedingt für alle gilt? Warum sollen sie alle unbedingt anders handeln? Reicht da ein »Appell an die Vernunft«, mit deren Hilfe man so oft das eine wie dessen Gegenteil begründen kann?
Nur Unbedingtes kann unbedingt verpflichten
Um hier nur kurz die grundsätzliche Antwort zu geben: Mit einem allen Menschen quasi eingeborenen »kategorischen Imperativ«, sich das Wohl aller Menschen zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen, kann man heute – nach Nietzsches Verherrlichung des »Jenseits von Gut und Böse« – nicht mehr rechnen. Nein, das Kategorische des ethischen Anspruchs, die Unbedingtheit des Sollens, läßt sich nicht vom Menschen, vom vielfach bedingten Menschen her, sondern nur von einem Unbedingten her begründen: von einem Absoluten her, das einen übergreifenden Sinn zu vermitteln vermag und das den einzelnen Menschen, auch die Menschennatur, ja, die gesamte menschliche Gemeinschaft umfaßt und durchdringt. Das kann nur die letzte, höchste Wirklichkeit selbst sein, die zwar nicht rational bewiesen, aber in einem vernünftigen Vertrauen angenommen werden kann – wie immer sie in den verschiedenen Religionen genannt, verstanden und interpretiert wird.
Zumindest für die prophetischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – ist es das einzig Unbedingte in allem Bedingten, das die Unbedingtheit und Universalität ethischer Forderungen begründen kann, jener Urgrund, Urhalt, jenes Urziel des Menschen und der Welt, das wir Gott nennen. Dieser Urgrund, dieser Urhalt und dieses Urziel bedeuten für den Menschen keine Fremdbestimmung. Im Gegenteil: Solche Begründung, Verankerung und Ausrichtung eröffnen die Möglichkeit zu einem wahren Selbst-Sein und Selbst-Handeln des Menschen, ermöglichen Selbst-Gesetzgebung und Selbst-Verantwortung. Richtig verstanden ist Theonomie also nicht Heteronomie, sondern Grund, Garantie, allerdings auch Grenze menschlicher Autonomie, die ja nie zu menschlicher Willkür entarten darf. Nur die Bindung an ein Unendliches schenkt Freiheit gegenüber allem Endlichen. Insofern kann man verstehen, daß man nach den Unmenschlichkeiten der Nazizeit in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland die doppelte Dimension der Verantwortung (vor wem und für wen?) festgehalten hat: die »Verantwortung vor Gott und den Menschen«.
Aber wie immer die Unbedingtheit der ethischen Forderung in den verschiedenen Religionen begründet wird, ob sie ihre Forderungen mehr direkt von einem geheimnisvollen Absoluten oder einer Offenbarungsgestalt, ob von einer alten Tradition oder einem heiligen Buch ableiten, sicher ist das eine: Religionen können ihre ethischen Forderungen mit einer ganz anderen Autorität vorbringen als eine bloß menschliche Instanz.
Grundfunktionen der Religion
Religionen sprechen mit absoluter Autorität, und sie bringen diese nicht nur mit Worten und Begriffen, Lehren und Dogmen, sondern auch mit Symbolen und Gebeten, Riten und Festen – also rational und emotional – zum Ausdruck. Denn Religionen besitzen Mittel, um nicht nur für eine intellektuelle Elite, sondern auch für breite Bevölkerungsschichten die ganze Existenz des Menschen zu formen – und dies geschichtlich erprobt, kulturell angepaßt und individuell konkretisiert. Nein, Religion kann nicht alles, doch vermag sie ein gewisses »Mehr« im Menschenleben zu eröffnen und zu schenken:
• Religion vermag eine spezifische Tiefendimension, einen umfassenden Deutungshorizont angesichts auch von Leid, Ungerechtigkeit, Schuld und Sinnlosigkeit und einen letzten Lebenssinn auch angesichts des Todes zu vermitteln: das
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