Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Religionen waren und sind immer in Versuchung, sich in einem unendlichen Gestrüpp von Geboten und Vorschriften, Kanones und Paragraphen zu verlieren. Und doch können sie, wo sie wollen, mit ganz anderer Autorität als jede Philosophie begründen, daß die Anwendung ihrer Normen nicht von Fall zu Fall, sondern kategorisch gilt. Religionen können Menschen eine oberste Gewissensnorm geben, jenen für die heutige Gesellschaft immens wichtigen kategorischen Imperativ , der in ganz anderer Tiefe und Grundsätzlichkeit verpflichtet. Denn alle großen Religionen fordern ja so etwas wie eine »Goldene Regel« – eine nicht nur hypothetische, bedingte, sondern eine kategorische, apodiktische, unbedingte Norm –, durchaus praktikabel angesichts der höchst komplexen Situation, in der einzelne oder auch Gruppen oft handeln müssen.
Diese »Goldene Regel« ist schon bei Konfuzius bezeugt: »Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an« (Konfuzius ca. 551 – 489 v. Chr.); aber auch im Judentum: »Tue nicht anderen, was du nicht willst, das sie dir tun« (Rabbi Hillel 60 v. Chr.–10 n. Chr.), und schließlich auch im Christentum: »Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.« Kants kategorischer Imperativ könnte als eine Modernisierung, Rationalisierung und Säkularisierung dieser Goldenen Regel verstanden werden: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«, oder: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen … jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«
Sittliche Motivationen
Gewiß, Religionen waren und sind immer in Versuchung, Menschen autoritär zu kommandieren, blinden Gehorsam zu fordern und die Gewissen zu vergewaltigen. Und doch können sie, wo sie wollen, überzeugende sittliche Motivationen bieten. Denn gegenüber so viel Frustration, Lethargie und Apathie besonders in der jungen Generation heute können sie aus uralter Tradition in zeitgemäßer Form überzeugende Motive des Handelns bieten: nicht nur wie die Philosophie ewige Ideen, abstrakte Prinzipien und allgemeine Normen, sondern auch die lebendige Verkörperung einer neuen Lebenseinstellung und eines neuen Lebensstils.
Konkret: Bis heute wirken diejenigen Lebensmodelle motivierend, die sich in Leben und Lehren der großen Leitfiguren der Weltreligionen darstellen: im Buddha, in Jesus Christus, in Kon-futse oder Lao-tse, im Propheten Muhammad. Das Wissen um das Gute, seine Normen, Modelle, Zeichen werden dem einzelnen nun einmal sozial vermittelt. Und da macht es einen alles entscheidenden Unterschied, ob man Menschen einen neuen Lebensstil abstrakt vordoziert oder ob man sie mit Verweis auf ein verpflichtendes konkretes Lebensmodell zu einem solchen Lebensstil einladen kann: zur Nachfolge Buddhas, Jesu Christi, Kon-futses, Lao-tses oder des Propheten Muhammad.
Sinnhorizont und Zielbestimmung
Gewiß, Religionen waren und sind immer in Versuchung einer doppelten Moral, nämlich die ethischen Forderungen nur anderen zu predigen und nicht selbstkritisch zuerst auf sich selber anzuwenden. Doch können sie, wenn sie wollen, auch heute noch – oder heute wieder neu – mit einzigartiger Überzeugungskraft gegen Leere und Sinnlosigkeit für Hunderte von Millionen Menschen in Lehre, Ethos und Ritus glaubwürdig einen Sinnhorizont auf dieser Erde selber aufscheinen lassen – und auch eine letzte Zielbestimmung .
Konkret: Alle Religionen beantworten die Frage nach dem Sinn des Ganzen , des Lebens, der Geschichte mit dem Blick auf eine schon hier und jetzt sich auswirkende allerletzte Wirklichkeit – ob diese nun mit dem klassischen Judentum als »Auferweckung«, mit dem Christentum als »Ewiges Leben«, mit dem Islam als »Paradies«, mit dem Hinduismus als »Moksha«, mit dem Buddhismus als »Nirvana« oder mit dem Taoismus als »Unsterblichkeit« umschrieben wird. Gerade angesichts vieler Frustrationen und vieler Erfahrungen des Leidens und Scheiterns können Religionen helfend und weiterführend ein Sinnangebot über den Tod hinaus und eine Sinngebung schon hier und jetzt vermitteln, und dies nicht zuletzt dort, wo moralisches Handeln erfolglos blieb.
»Projekt Weltethos« (1990), S. 81 – 86.
8. Weltethos – Orientierung für die Menschheit
Moral ohne Religion?
Das »Projekt Weltethos« ist kein
Weitere Kostenlose Bücher